Töne, Muskeln und Konsum: DGÄZ diskutierte über zeitgemäße Ästhetik und Funktion
Prothetik am "sch" orientieren
Zu den eindrucksvollsten Präsentationen 2009 gehörte eine Studie von ZTM Jürg Stuck zum Thema "Sprache und Zahnersatz". Anhand einer Videoaufzeichnung zeigte er in Zeitlupe, wie Patienten sprechen, wie sie dabei Unter- und Oberkiefer positionieren, welche Muskeln tätig werden, und wieviel Individualität hinter einem F oder einem S steckt. Ziel seines Vortrages war die Sensibilisierung des Auditoriums für natürlich gestaltete Prothetik, die die Sprachpersönlichkeit berücksichtigt. "Sprache ist so individuell, dass es schwer ist, die Patienten in Evidenzgruppen einzuteilen", sagte Stuck, der auch auf die bisher eher dünne wissenschaftliche Datenlage zu Phonetik und Zahnersatz hinwies. Kronen und Brücken müssten nicht nur hinsichtlich der Okklusion passgenau gestaltet werden, sondern auch hinsichtlich der durch die individuelle Sprache bedingten Bewegungsspielräume der Zähne: "Sprache kann man sehen!" Wenn sich der Unterkiefer – wie in Videopräsentationen eindrucksvoll ersichtlich – beim Sprechen seitlich verschiebt, müsse diese Bewegung bei der Prothetikplanung berüksichtigt werden. "Es ist nicht Aufgabe der Logopäden, Sprachprobleme nach Prothetik zu korrigieren, sondern unsere Aufgabe, sie zu vermeiden." Er empfahl vor der Herstellung der endgültigen Versorgung ein Mock up als Test, um das Sprachmuster des Patienten in seiner Auswirkung auf die Zähne und deren Abnutzung zu prüfen. "Fertig sind wir erst dann, wenn die Sprache rund läuft und "sch"-Laute nicht mehr anstoßen." Es sei nicht genug, bei notwendiger Vertikalisation die Situation mit einer Schiene zu testen: "So erkennen Sie die Sprache des Patienten ja nicht." Ob ein Zahnersatz in Funktion erfolgreich ist oder nicht, sei nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören. Derart gestaltete Prothetik sei auch ästhetisch ein Gewinn, weil keine Verfremdung, sondern in Harmonie mit der natürlichen Individualität des Patienten gestaltete Rekonstruktion und daher beste Ästhetik.
Totalprothesen erfordern große Verantwortung
Bei Patienten mit Totalprothetik stehe der Behandler vor einer großen Herausforderung und auch Verantwortung seinem Patienten gegenüber, sagte Zahnarzt Jan Strüder (Spezialist DGÄZ & EDA), der mit seinem Vortrag ein weiteres Highlight unter den insgesamt 13 spannenden Referaten der INTERNA lieferte. Er verwies auf die häufig begleitenden psychischen Belastungen, die mit der Zeit zu somatischen Folgen würden und bei der Versorgung berücksichtigt werden müssten. Ein wichtiges psychologisches Moment der Totalprothetik müssten Behandler und Patient gleichermaßen bewusst wahrnehmen: "Totalprothetik ist keine Endlösung, sondern ein Neubeginn." In der Regel legten diese Patienten den mit Abstand größten Wert auf die Funktion, eine "schöne Lösung" werde erst nachrangig erwartet. Um die Seele des Patienten auf dem Weg zu einem Zahnersatz, der ihn viele Lebensjahre lang begleiten wird, in die Planung zu integrieren, sei es wichtig, vorab zu erkunden, was den Patienten an der Totalprothetik am meisten störe. Dabei müsse sich jeder Behandler auch die Frage stellen, ob die als prioritäre Versorgung angedachte Lösung mit dem allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten kompatibel ist, mit dem Zeitbedarf für die Therapie, mit den finanziellen Möglichkeiten und der zu erwartenden Compliance des Patienten. Bei einer so aufwändigen und grundsätzlichen Aufgabe wie einer Totalprothese empfehle er unbedingt eine "therapeutische Prothese" statt gleich einer endgültigen Lösung. Strüder: "Der Patient hatte vielleicht jahrelang eine insuffziente Prothese, die Bisshöhen haben sich verändert und damit auch die gesamte Muskulatur in der Mundregion." Die Aufstellung der Prothetik nach phonetischen Gesichtspunkten sei auch für ihn ein neuer, aber spannender Aspekt, möglicherweise sei aus phonetischer Sicht eine Angle Klasse II manchmal sogar sinnvoller als das Erreichen einer Angle Klasse I.
Handlanger von Politik und Marketing
Einen fast schon kulturpolitischen Beitrag, der die verschiedenen Vorträge perfekt einrahmte, lieferte Prof. Sader selbst unter der Überschrift "Konsumdenken im Gesundheitswesen – Auswirkungen auf die Ästhetische Medizin". Er verwies auf die neuen bildgebenden Verfahren in 3D, die eine große Chance für die Zahnmedizin in der Kommunikation mit den Patienten bieten: "Schon in der Urgeschichte kommunizierte man über das Bild." Das Konsumverhalten werde zu 90 % über die Augen gesteuert und Augen seien zu täuschen. In der Regel seien die Bilder in der Werbung geschönt, das Verlagen, solchen Menschen ähnlich zu werden, daher illusorisch. Die ständige Präsenz unerreichbarer Attraktivität habe ein Anspruchsveralten an die Ästhetische Medizin geweckt, das an das Kaufverhalten eines Autos erinnere. Es werde immer schwerer für die Ärzte, die Erwartungen auf ein realistisches Maß zu dämpfen. Es sei allerdings damit zu rechnen, dass der Wunsch der Menschen nach Vitalität und Gesundheit weiter wachse: "Zu Ihnen kommt nicht mehr der Patient, sondern der Kunde, der sein persönliches Wohlbefinden kauft." Gepuscht werde diese Position durch Unternehmen, die über den Patienten Druck auf die Praxis ausübten, auf der Gegenseite wachse der Druck der Kassen und Versicherungen, die Ausgaben für die zahnärztliche Versorgung weiter herunterzufahren: "Dies alles bedroht unsere Freiberuflichkeit – wir müssen immens aufpassen, dass wir nicht zu Handlangern von Politik und Marketing werden!" Visionäre Computertechnologie werde es demnächst ermöglichen, eine Art "Face-Generator" als Patientenkommunikationsmittel zu nutzen: "Unsere Aufgabe ist die Rekonstrukion der persönlichen Identität unseres Patienten – wir können ihm mit dem gewichtigen Medium Bild zeigen, wie sich seine Situation weiter entwickeln wird." Goethe habe den Ästhetik-Zahnärzten geradezu ein Credo übermittelt: "Ihr sollt die Menschen lieben, wie sie sind, und nicht, wie ihr sie haben wollt."