Bei der ausgesprochen gut besuchten zentralen Pressekonferenz aus Anlass des diesjährigen Tages der Zahngesundheit am 22. September 2004 in Hamburg nannte der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) erschreckende Zahlen zu ernährungsbedingten Schäden an den Zähnen: Aktuellen Schätzungen der zahnmedizinischen Wissenschaft zufolge erleiden in Deutschland etwa 5-15% aller Kinder eines Geburtsjahrganges zwischen dem ersten und dem fünften Lebensjahr eine Schädigung des Milchzahngebisses in Form des Nursing-Bottle-Syndroms, in niedrigen sozioökonomischen Schichten sogar bis zu 35% der Kinder. Ursache ist vor allem der falsche Umgang der Eltern mit Trinkgefäßen, Trinkgewohnheiten und Getränken ihrer Kinder. Aber auch bei Erwachsenen gibt es einen hohen Prozentsatz an ernährungsbedingten Zahnschäden – so weist jeder Zehnte in der Gruppe der 35-44-Jährigen Erwachsenen Erosionen der Zahnhartsubstanz auf.
Der Aktionskreis TAG DER ZAHNGESUNDHEIT, dem 30 führende Organisationen und Verbände aus dem Gesundheitsbereich angehören, hatte deshalb das Motto des Jahres 2004 einem oft verkannten Thema gewidmet: den Auswirkungen von Getränken auf die Zahngesundheit. Mit dem aktuellen Motto „Gesund beginnt im Mund – vom ersten Schluck an“ wollten die Zahnärzte und ihre Partner im Aktionskreis vor allem Eltern ansprechen, sich so früh wie möglich mit den Zusammenhängen von Ernährung und Zahngesundheit auseinanderzusetzen und besonders dem Aspekt Trinken mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Während Zusammenhänge von zuckerhaltigen Süßigkeiten – auch Zwischenmahlzeiten – und der Entstehung von Karies heute vielen Menschen bekannt sind, werden die Auswirkungen von Getränken und Trinkverhalten (Dauernuckeln) noch viel zu oft übersehen. „In den letzten 30 Jahren ist in Deutschland der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Limonaden und Erfrischungsgetränken von 19 auf 40 Liter angestiegen“, sagte Dr. Oesterreich, „der Konsum von Fruchtsäften nahm von 70 auf 100 Liter und bei Cola von 18 auf 40 Liter zu.“ Die zahnschädigende Wirkung von Zucker in Getränken, aber auch der Säuren in Säften werde vielfach gar nicht wahrgenommen. Dr. Oesterreich: „Was in frühester Kindheit an unausgewogenen Ernährungsgewohnheiten erlernt wird, setzt sich leider häufig über das Jugend- und Erwachsenenalter fort.“ Da den Kindern eine Fehlernährung über ihre Eltern antrainiert würde, müssten vor allem die Eltern und Erzieher frühzeitig für ernährungsbedingte Zusammenhänge sensibilisiert und die Kinder so früh wie möglich in der Praxis des Hauszahnarztes vorgestellt werden. Dr. Oesterreich forderte mehr Ernährungsberatung in den ärztlichen und zahnärztlichen Praxen und wies darauf hin, dass die Bundeszahnärztekammer inzwischen bestehende Defizite im Bereich der Fortbildung in diesem Themenkreis abbaue. Verhaltensänderungen seien nicht leicht zu etablieren, schwer dafür zu erwärmen seien auch Jugendliche, bei denen nicht durch Karies bedingte Zahnschäden auf oft exzessives Trinken sogenannter Softgetränke wie Eistee, Cola, Limonaden, Vitamingetränke o.ä., zurückgehen – mit hohem Zucker- und oft auch sehr großem Säureanteil. Dr. Oesterreich: „Auch diese Getränke werden dauergenuckelt. Nicht aus Nuckelflaschen, sondern aus den uns allen bekannten Rennfahrerflaschen.“
„Eine Nation albern nuckelnder Spitzensportler!“
Mit einem beeindruckenden Vortrag von der Zahnschmelzentwicklung bis zur exzessiven Flaschen-Nuckelei sogar erwachsener Mitmenschen machte der Giessener Universitätszahnmediziner Prof. Dr. Willi-Eckhard Wetzel deutlich, was sich mit der Einführung der Plastiksaugerflasche in den 80er Jahren in Deutschland geändert hat – eine Wende zum Schlechten für die Zahngesundheit: „Man muss sich nur die Werbung und Fernsehberichte ansehen: Wir sind eine Nation albern nuckelnder Spitzensportler geworden – und was sie uns vorleben, machen leider viele Eltern nach.“ Was ursprünglich für Babys gedacht war – Flaschen mit einem Sauger – werde heute für rund dreijährige Kinder, für Schulkinder und für Erwachsene angeboten. Kinderflaschen mit Schnabel statt Sauger seien aus zahnmedizinischer Sicht keineswegs ein Fortschritt – auch hier seien die Zähne dem gezielten Strom der oft süßen oder sauren Getränke schutzlos ausgeliefert. Kinder werden heute, so Prof. Wetzel, geradezu abhängig gemacht von der Nuckelei, die längst nicht mehr allein der Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme diene, sondern auch als Mittel gegen Langeweile. Was im Babyalter beginne, setze sich heute über Design-Nuckelbehälter für den Kindergarten bis zu sogenannten Sportgetränken mit Ventil für Größere und Erwachsene nahtlos weiter fort.
Mit eindrucksvollen Bildern zeigte er identisch aussehende Zahnschäden von Kleinkindern und Erwachsenen durch erosiv wirkende Getränke in Nuckelflaschen und betonte vor allem die Verantwortung von Eltern. „Sowohl überzuckerte als auch säurehaltige Getränke können bei Kleinkindern die Gesundheit der Milchzähne gefährden. Dies gilt besonders dann, wenn sich auf den einwachsenden Zähnen noch kein schützendes ‚Schmelzoberhäutchen’ aus weitgehend säurebeständigen Speichelstoffen gebildet hat.“ Vielen Eltern sei gar nicht bewusst, dass auch Saft im Fläschchen Zahnschäden auslösen kann: „Werden anstelle von Muttermilch oder volladaptierter Muttermilchersatznahrung häufig überzuckerte und/oder stark fruchtsäurehaltige Getränke verabreicht, so können diese über die psychische Bahnung tatsächlich zu einer Favorisierung dieser Geschmacksrichtungen beim Kleinkind führen – geschmacks- und ph-Säurewert-neutralere Getränke werden dann abgelehnt.“ Bei Kindern zwischen etwa ein und vier Jahren werde der schädigende Einfluss solcher Getränke enorm verstärkt, wenn vorrangig Nuckelgefäße wie Saugerflaschen, Schnabeltassen oder Ventil-Sportflaschen benutzt werden: „Beim Saugvorgang wird die Wangenmuskulatur eingezogen, der Mund geöffnet und die Zunge gegen den Unterkiefer vorgeschoben, so dass der Speichel seine sonst übliche neutralisierende und reinigende Wirkung an den Zähnen im Oberkiefer gar nicht ausüben kann.“
Bernd Wiethardt: „Stoppt die Nuckelflasche!“
Die Krankenkassen, das machte Bernd Wiethardt für die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen deutlich, verfolgten mit Sorge den weit verbreiteten Gebrauch der Nuckelflasche und die damit verbundene Zunahme der Milchzahnkaries. Sie versuchten, mit entsprechenden Info-Schriften, Aufklärungsbroschüren und gemeinsamen Maßnahmen mit Ärzten und Zahnärzten, dem entgegenzuwirken. Wiethardt verwies auf das ständig steigende finanzielle Engagement der Krankenkassen für die zahngesundheitliche Prävention im Kleinkind- und Jugendalter – allein im Jahre 2003 hätten die Krankenkassen hierfür rund eine halbe Milliarde Euro ausgegeben. Er forderte eine bessere Zusammenarbeit aller Leistungserbringer (Gynäkologen, Kinderärzte und Zahnärzte) auf diesem Gebiet und bedauerte zugleich, dass „es bisher nicht möglich war, ein bundeseinheitliches Heft mit den kinderärztlichen und zahnärztlichen Früherkennungs-Untersuchungen einzuführen.“ Kritisch sah Wiethardt die Erfolge von entsprechenden Aufklärungsbemühungen: „Zwar lässt sich durch entsprechende Maßnahmen das Wissen der Eltern verbessern, eine spürbare Verhaltensveränderung geht aber selten damit einher.“ Gleichwohl werden die Krankenkassen in Zusammenarbeit mit allen an der zahngesundheitlichen Prävention Beteiligten ihre Bemühungen verstärken, um den Gebrauch der Nuckelflasche und damit die Milchzahnkaries entscheidend zu bekämpfen. Für die Journalisten hatte er eine Plastikflasche mit angedeutetem Orangensaft und Nuckel mitgebracht: Mit dem Aufruf „Stoppt die Nuckelflasche!“ wurde sie zum Ende der Pressekonferenz mit kräftigem Einsatz zerstört.
Quelle: Birgit Dohlus
Pressestelle TAG DER ZAHNGESUNDHEIT