Zahnimplantate sind Prävention


Implantologie sei Vorzeigegebiet der Zahnheilkunde, weil es von
vornherein sehr medizinisch ausgelegt sei, und habe viele Träume der
Patienten und auch der Zahnärzte erfüllt: „Was haben wir früher alles
versucht, eine sinnvolle Verankerung für die Prothetik zu erreichen!“
Über das Tagungsthema hocherfreut war auch Dr. Wolfgang Schmiedel,
Präsident der Zahnärztekammer Berlin, der dem Publikum seine
Enttäuschung bekundete, dass „die vorgelegte Präventionsorientierte
Zahnheilkunde in der Zahnärzteschaft nicht die ihr angemessene
Aufmerksamkeit gefunden“ habe – er sei daher dankbar, dass das Thema
hier aufgegriffen werde. Zur Jubiläumstagung hatte Prof. Strunz die
amtierenden Präsidenten und alle Altpräsidenten und damit die führenden
Experten in der Implantologie nach Berlin eingeladen – ein geschickter
Schachzug, denn hier konnte mit der Souveränität der Etablierten nicht
nur über Neues berichtet, sondern die Entwicklung der Implantologie
auch im Überblick betrachtet und falsche Erwartung in die Schranken
verwiesen werden.

Knochenwachstum: Praxiserleben contra Studien
Wer sich aufgrund seiner praktischen Erfahrung in der Praxis ganz
sicher war, dass Implantate zu Knochenwachstum führen, musste sich von
der Wissenschaft einen kleinen Dämpfer holen. Prof. Schliephake stellte
in seinem Beitrag „Strukturerhalt durch Implantate?“ – hier bewusst mit
Fragezeichen im Titel – klar, dass diese Kausalität nicht wirklich klar
und belegt ist. Für den Abbau von Kieferknochen verantwortlich seien
systemische Faktoren (z.B. Hormonstatus) und lokale Faktoren (z.B.
Druck, Inaktivität) – insofern sei ein Implantat, das Inaktivität
vermeide, als Prävention von Knochenabbau prinzipiell sinnvoll, auch
wenn es sich „nur“ um eine Verlangsamung des Prozesses und nicht um
seine Umkehrung handele. Tatsächlich sei das Thema „Knochenabbau“ so
diffus und multifaktorell wie es der Praktiker im Kopf habe. „Der
Knochen ist ein intelligentes Gefüge“, dessen Struktur durch An- und
Abschalten von Zellwachstum bestimmt werde; funktionelle Reize lösten
eine Art „Impuls“ aus und hielten so den Alveolarfortsatz an seinem
Platz. Ob ein Implantat aber die gleichen Kräfte übertrage wie die
natürliche Zahnwurzel sei in der Theorie mit Ja, in der Wissenschaft
bisher aber mit „nicht wirklich eindeutig“ beantwortet worden.
Offensichtlich werde aber eine weitergehende Atrophie verzögert.
Implantate lösten einen Knochenumbau aus und damit einen biologischen
Prozess, der eine „nicht immer vorhersagbare Eigendynamik“ entwickle.
Prof. Schliephake empfahl daher unbedingt vor einer Implantation die
Beachtung der biologischen Breite. Hinsichtlich der „Impulse“, die das
Knochenwachstum auslösten, frage Prof. Dr. Strunz nach dem Beitrag, ob
dies nicht auch durch Strom erreicbar sei: „Das ist vorstellbar“,
meinte Prof. Schliephake, „therapeutisch aber noch nicht einsetzbar.“

Prävention aus Sicht von Prothetik bis Weichgewebe
Ob Implantate eine „Voraussetzung zum Hart- und Weichgewebserhalt“
sind, konnte Prof. Dr. Dr. Friedrich Neukam (Erlangen) ebenfalls nicht
abschließend beantworten: Man wisse nicht wirklich ganz genau, wie
Resorption ablaufe, und warum bei Patienten unterschiedlich auch das
Alter eine Rolle spiele. Objektiv vergleichende Studien zu
Resorptionsunterschieden bei schleimhautgetragenem Zahnersatz und einer
Implantatversorgung lägen noch nicht vor, subjektiv gesehen spreche
manches für ein präventives Plus bei Implantaten. Es fehlten zudem
Studien zum Resorptionsverhalten mit und ohne Augmentat. Aus der Praxis
ergänzte Altpräsident Dr. Sebastian Schmidinger, der hier den
wissenschaftlichen Vorsitz hatte, dass man Augmentationen offenbar gut
halten könne – der wissenschaftliche Nachweis dafür aber noch eng sei.
Es sei eindeutig, bestätigte Prof. Dr. Heiner Weber (Tübingen), dass
sowohl Unter- als auch Überbelastung zu Knochenverlust führt – und
„dies ganz ohne bakterielle Einflüsse.“ Eine ausgewogene
Knochenbelastung durch ein Implantat führe auch zu einer Verbesserung
des Knochenerhaltes im Bereich der natürlichen Nachbarzähne. Die
Implantologie sei zwar von Prothetikern entwickelt worden, „statistisch
gesehen stellen aber die Mund-, Kiefer- Gesichtschirurgen den
überwiegenden Anteil an Referenten heute – eine Entwicklung, die man
mit wachem Auge beobachten muss.“ Das heiße aber nicht, dass die
Chirurgie heute eine nachrangige Rolle spiele – sie sei im Gegenteil
zur Erhaltung von Gewebe unersetzlicher Partner. Am Rande mahnte er an,
dass unter dem Aspekt Nutzen, Risiken und Kosten für manche Patienten
nicht eine festsitzende, sondern eine herausnehmbare Lösung die bessere
sei: „Diesen Aspekt sollten Sie nicht aus den Augen verlieren.“
Prof. em. Dr. Dr. Franz Härle (Kiel) berichtete über knochenerhaltende
bzw. aufbauende Maßnahmen mit verschiedenen Augmentationsmaterialien
und empfahl bei autologem Augmentat prinzipiell eher Spongiosa als
Kompakte, beim Aufbau des Alveolarkamms eher Kompakta, und in den Sinus
„können Sie alles reinpacken was übrig bleibt – auch Bohrschlamm,
Bohrmehl, weil es hier von drei Seiten Knochenkontakt gibt.“ Nach
anfänglicher Skepsis sei nun auch er restlos überzeugt von den guten
Effekten von BioOss plus Wachstumsfaktoren, dies koste aber extra Zeit
und Geld. Wieviel Innovation und Forschung noch möglich ist, zeigte
sein Hinweis auf die Ursache der guten Heilung von Eingriffen im Mund:
Verantwortlich dafür sind demnach antibakterielle -Defensive in der
Schleimhaut – ihr therapeutischer Einsatz aber eher „Zukunftsmusik“.
Aus Sicht des Osteologie beantwortete Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden
(Kiel) die Frage, ob man einen atrophierten Kiefer durch physiologische
Belastung wieder aufbauen könne. In fortgeschrittenem Zustand sei dies
sicher zu spät, ansonsten eine Vermehrung der Knochendichte und damit
einhergehender äußerer Menge prinzipiell aber möglich. Kieferatrophie
und damit eine Änderung der Physiognomie im unteren Gesicht könne durch
frühzeitige Augmentation vermieden werden, bei physiologischem Reiz sei
ein Knochenblock auch nach 10 Jahren noch zu halten. „Prävention
beginnt bei der Extraktion“, legte er den Tagungsteilnehmern ans Herz,
und ein Kollaps der Alveolen dabei zu vermeiden: Durch
Knochenersatzmaterialien und Transplantate müsse das Volumen von
Knochen und Weichgewebe erhalten werden. Die Gingiva dürfe nicht in die
Alveole einwandern: Um den Ring der befestigten Gingiva zu
stabilisieren, empfahl er BioOss mit autogenem Knochen plus Membran.
Einen ungewöhnlichen Tipp gab es zudem: Prof. Terheyden empfahl zur
Vermeidung des Alveolenkollapses das Einstecken des originalen Zahnes
ohne Wurzel, das Gewebe passe sich der Zielform an und ermögliche so
einen physiologischen Abschluß im Bereich des Saumepithels. Auch eine
Sofortimplantation könne die Resorption der fazialen Knochenwand
verhindern. Gewarnt wurde aber vor Knochenersatzmaterial in infizierter
Alveole mit luftdichtem Membranverschluss: „Eine akut infizierte
Alveole ist eine Kontraindikation!“
Auf das Thema „Infektion“ ging auch der Praktiker und Parodontologe Dr.
Gerhard Michael Iglhaut (Memmingen), DGI-Fortbildungsreferent, ein und
verwies auf die verschiedenen Ökosysteme im Mund: Die individuelle
bakterielle Besiedelung des Mundes finde sich nach wenigen Tagen auch
im Sulkus um das Implantat wieder, nehme aber dann nicht mehr weiter
zu. Hinsichtlich der Erfolge von Zahnerhalt durch Endodontie im
Vergleich zu Zahnersatz durch Implantologie bemerkte er, dass
Implantate letztlich oft genau so teuer seien, im Vergleich zu
endodontischen Verfahren aber sichere und gute Langzeiterfolg zeigten.
Eine ausführliche parodontale Vorbehandlung könne im Vorfeld einer
Implantation bei Patienten mit aggressiver und refraktärer Parodontitis
eine spätere minimalinvasive Implantatchirurgie bei besten ästhetischen
Ergebnissen vorbereiten, eine Implantatversorgung sei zudem eine
hervorragende Langzeittherapie für ein parodontal geschädigtes Gebiss.

Kästchen:

Implantate als Prävention mit Blick auf ganz junge und ganz alte Patienten

Watzek: Enorme Hilfe für Kinder und Jugendliche
„Es gibt kaum ein Gebiet, wo man unter dem Aspekt Prävention bei
Kindern und Jugendlichen so viel erreicht wie mit der Implantologie“
meinte Prof. Dr. Georg Watzek (Wien) in einem bewegenden Beitrag, „man
muss nur daran denken!“ In Fällen von Nichtanlage zeigte er erhebliche
Alveolarfortsatzresorptionen und Nichtausbildung von Knochen durch
verdrehte und verschobene Zähne: „Je mehr fehlen, desto dramatischer
dieser Effekt. Und er wirkt sich erheblich in der Physiognomie der
Kinder aus.“ Ein massives Lückengebiss führe zu einer Störung des
gesamten dysgnathen Systems, diese setze sich fort bis ins hohe
Erwachsenenalter. Bei massiven Formen einer offenen Biss-Situation sei
es eine schwere Aufgabe für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgen, einen
Ausgleich herzustellen – man brauche Glück, dass das notwendige
Augmentat auch erhalten bleibe. Die Liste der Prävention, die bei
Kindern und Jugendlichen durch Implantologie möglich sei, reiche von
Effekten bei Zahnrotationen über Kiefergelenkskompression bis zu
Phonetik. Wann, wo und bei welchem Kind eine Implantation möglich sei,
könne er nicht „per Rezept“ beantworten, nur „über unsere eigene
Erfahrung“, die auf rund 300 behandelten Kindern und Jugendlichen
beruhe. Er berichtete über Erfolge, aber auch gelegentliche Misserfolge
bei Oberkiefer- und Unterkieferimplantationen und kam zu dem Resümee:
„Implantologie ist eine derartige Entlastung und echte Prävention – das
würde ich auch bei meinen eigenen Kindern machen.“ Die Zusammenarbeit
mit kieferorthopädischen Kollegen mache eine Weiterversorgung der
Patienten an deren Wohnort möglich. Man könne mit der Implantattherapie
beginnen ab 17. oder 18. Lebensjahr: „Ich würde es so spät wie möglich
machen – es bleibt aber eine Güterabwägung, denn das Thema hat auch
eine soziale Komponente.“

Spiekermann: Geriatrische Notwendigkeiten
Mit dem Abstand als Souverän der Implantologie leistete sich Prof. Dr.
Dr. Hubertus Spiekermann (Aachen) die Empfehlung „back to the roots“.
Das Alter der Patienten, die versorgt werden müssen und auch wollen
(„Im Alter bekommt das Thema Essen eine ganz andere Dimension“), reiche
mehr und mehr in die ganz hohen Lebensjahre und mache den Praxisbesuch
oft unmöglich. Zahnersatz für diese Patienten müsse einfach sein („Sie
müssen an der Bettkante behandeln!“) und erweiterbar („Mit einer
festsitzenden, umfangreichen Versorgung bekommen Sie große Probleme“).
Die „alten, einfachen Lösungen auf zwei Implantaten mit Steg“ seien zu
Unrecht in schlechten Ruf geraten und müssten unter der
epidemiologischen Entwicklung neu betrachtet werden: „Es geht auch
herausnehmbar und auf Steg – und das ist auch leichter zu säubern.“ Der
Patient müsse auch ohne Pflegepersonal putzen können. Vier Implantate
seien zwar besser, aber nicht immer realistisch, auch Restzähne sollten
in die erweiterbare Konstruktion mit einbezogen werden. Aus seinem
Beitrag sprach große Empathie gegenüber den geriatrischen Patienten,
und so legte er seinen Zuhörern auch Achtung gegenüber deren Wünschen
ans Herz: „Wenn unsere Patienten mit zunehmendem Alter eines nicht
verlieren, dann ist das die Eitelkeit.“

Letzte Aktualisierung am Donnerstag, 30 November 1999