Sie richtet erstens ihren Blick auf den Aspekt „der richtige Zeitpunkt“
und damit auf die Frage, wann wer wie intervenieren und mit wem
zusammenarbeiten sollte. Zweitens widmet sie sich jeweils einem eher
fachfremden Thema, das die beiden Berufsgruppen in Wissenschaft und
Praxis deutlich tangiert, und bietet Einsicht in das andere Herangehen.
Dabei gewinnen auch die fachfremden Referenten ihrerseits Erfahrungen
aus der Wissens- und Erfahrungswelt der Zahnärzte und Kieferorthopäden.
Dass dieses Konzept immer mehr Anhänger findet, zeigte sich beim diesjährigen Gemeinschaftskongress nicht nur an den erneut gestiegenen Teilnehmerzahlen – letztlich mussten Notsitze eingerichtet und im Vorfeld viele Absagen erteilt werden. Auch die spürbare Faszination an den Vorträgen aus den verschiedenen Disziplinen schuf eine besondere Athmosphäre. Das lag nicht zuletzt an dem ungewöhnlichen Programm, das Professor Radlanski zusammengestellt und mit ansteckender Begeisterung als Moderator präsentiert hat. Geradezu fasziniert hat die Hauptreferentin für den Bereich Logopädie, die Sprachheilpädagogin Dr. h.c. Susanne Codoni, Universität Basel. Ihr ohnehin großer ‚Fankreis’ wird nach der Frankfurter Veranstaltung noch deutlich gestiegen sein. Neue Einsichten übermittelten ebenfalls die spannenden Beiträge „Audiologie als Partner von Zahnärzten, Kieferorthopäden und Kinderärzten“ (Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt, Bereich Schwerhörigenpädagogik an der LMU/München) und der Aspekt „Autonomie und Eigenverantwortlichkeit beim Kind und Jugendlichen“ (Dr. Dagmar Hoehne, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Friedrichshafen).
Seit Jahren seien Sprachauffälligkeiten steigend, hatte Dietlinde Schrey-Dern (Deutscher Bundesverband für Logopädie) einführend in ihrem Grußwort betont und damit auch ihrerseits bestätigt, wie wichtig das Thema und dieser gemeinsame Kongress sind. Für die Kinderzahnärzte unterstützte dies ZÄ Sabine Bertzbach (DGK, BuKiZ), die auch die Bestimmung des richtigen Zeitpunktes der Zusammenarbeit als wichtige Aufgabenstellung sah. Das brachte Professor Radlanski zu der Frage, ob und wann ein Kind eigentlich wisse, dass es richtig – oder falsch – spricht: „Hat es sich das Lispeln falsch antrainiert, kann es den Unterschied nicht hören, ist es ein neuronales Problem, oder gibt es eine genetische Ursache?“
Dass Sprachstörungen eingebettet sind in ein grundsätzliches „Haltungsproblem“, zeigte eindrucksvoll Dr. Gundi Mindermann (IKG, BDK) mit vielen Beispielen aus dem Alltag in der kieferorthopädischen Praxis: „Wie ein Kind hereinkommt, ob es schlurft oder schleicht, sagt schon viel über seine ‚Haltung’ aus.“ Es zeige sich dabei meist ein Zusammenhang mit der (Falsch-)Lage der Zunge im Mund, diese wiederum habe sowohl für die Sprachfunktion als auch für den kieferorthopädischen Erfolg eine enorme Bedeutung. „Eltern denken oft, Fehlfunktionen würde sich verwachsen. Das ist ein Irrglaube.“ Vielen sei nicht bewusst: „Mundfunktion und Sprache prägen den Gesichtsausdruck!“ Die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Denkens und Vorgehens machte Dr. Codoni ihrerseits mit Blick auf die Logopädie deutlich: „Ich schaue bei einem Kind mit Habits auch auf die Füße.“ Fehlhaltungen von Kopf und Körper stünden in enger Verbindung zu myofunktionellen Störungen: „Die Form folgt der Funktion!“ Offene Mundhaltung sei Symptom einer generellen Haltungsschwäche. Sie zeigte eindrucksvolle Beispiele myofunktioneller Therapie des gesamten Körpers mit zeitnaher Verbesserungen der Mundfunktion. Eine solche Therapie funktioniere nur, wenn das Kind einbezogen werde – was aber tun, wenn das Kind nicht mitmacht? Dr. Hoehne gab in einer Übersicht über das „Selbstkonzept“ von Kindern und ihrer Selbstwahrnehmung in den verschiedenen Entwicklungsphasen bis zur Jugend altersgerechte Tipps. Beispiel: Erst ab etwa zehn Jahren könnten Kinder zukunftsorientiert denken – Sprüche wie „damit Du später…“ wären vorher sinnlos.
Wie ein Kind lernt, war Kernaspekt des Beitrags von Professor Leonhardt. Das Hören spiele für die Sprachentwicklung eine große Rolle – und das Gehirn: „Man hört über das Ohr, aber Hören ist eine Leistung des Gehirns, das die Töne entschlüsselt.“ Kinder benötigten in den ersten anderthalb Jahren Stimuli für eine gesunde Hör- und Sprech-Entwicklung: „Mit dem Kind zu singen ist wichtiger als mit ihm zu turnen!“ Dass Sprachfehler, wie Professor Radlanski angedeutet hatte, einen somatischen Aspekt haben können, zeigte Dr. Codoni an ihrem Vortrag zum Thema „Lispeln“: „Lippe, Zunge, Sprechen und verbale Sprache sind Teil eines Beziehungsgefüges aus Körperhaltung, Muskulatur und Stimme.“ Die Zunge gehöre in den Bereich der „Mundinnenwahrnehmung“: „Sprechen ist Bewegung – und Bewegung ist Muskel. Und ein Muskel muss trainiert werden.“ Lispeln weise auf eine Störung des Systems hin – nicht allein im Mund: „57 % der Kinder mit Sprach- und Sprechproblemen weisen zusätzliche körperliche Parameter auf.“ Dass die allseits als zwingend erachtete Zusammenarbeit von zahnärztlichen bzw. kieferorthopädischen Praxen mit Logopäden rechtlich noch Optimierungsbedarf hat, kritisierte Prof. Dr. Rolf Hinz, Herne: „Da gibt es ein ziemliches Durcheinander in den Regelungen. Das muss sich bessern!“
In der abschließenden Round-Table-Diskussion zeigte sich, dass Wissenschaft und Praxis in vielerlei Hinsicht die gleichen Gedanken leiten: Anders als früher würden Kinder heute oft alleingelassen, das Erfahrungswissen ginge verloren, wie man richtig sitzt, isst und spricht. Umso wichtiger sei es, den Kindern ein Netzwerk an Kompetenz zu bieten. Dr. Codoni fasste es auf ihre Weise zusammen: „Nehmt euch bitte die Zeit und geht aufeinander zu!“ Der langanhaltende Beifall für den Kongress zeigt, dass dieser Wunsch zumindest beim Auditorium in Frankfurt auf offene Ohren stieß.