Mehr Medizin in die Zahnmedizin


In Deutschland leiden etwa 1,8 Millionen Menschen an Herzschwäche, fünf Millionen Menschen haben Diabetes, 600.000 rheumatoide Arthritis. Pro Jahr erleiden 280.000 Menschen einen Herzinfarkt und 200.000 einen Schlaganfall. Millionen von Patienten nehmen Medikamente ein, welche die Blutgerinnung aber auch andere Stoffwechselvorgänge sowie Heilungsprozesse beeinflussen. Etwa 6,8 Millionen Menschen sind – zumeist aufgrund von Erkrankungen – schwer behindert, mehr als zwei Millionen sind pflegebedürftig, über eine Million leidet an Demenz.

Der »demographische Imperativ« zwingt Zahnärztinnen und Zahnärzte dazu, sich auf eine steigende Zahl von Risikopatienten einzustellen. »Wichtig für den Praktiker ist es, Risiken und mögliche Komplikationen seiner Therapie zu kennen und die besten Konzepte zur Vermeidung von Misserfolgen oder Komplikationen in seine Behandlung zu integrieren«, erklärt Dr. Dr. Wolfgang Jakobs, 1. Vorsitzender des Berufsverbandes der Deutschen Oralchirurgen. »Fortschritte in der Diagnostik, nicht zuletzt die Möglichkeiten der 3D-Diagnostik, tragen etwa dazu bei, die Risiken von Nervverletzungen bei der operativen Entfernung von verlagerten Zähnen zu reduzieren.«

Die zunehmende Lebenserwartung der Patienten und die damit einhergehende Multimorbidität erfordern, so Jakobs, »gerade in der Oralchirurgie, mehr noch als im allgemeinzahnärztlichen Bereich, eine Abstimmung der Therapiekonzepte auf die Vorerkrankung der Patienten.«

Muss sich beispielsweise ein Patient ein halbes Jahr nach einem Herzinfarkt einem oralchirurgischen Eingriff unterziehen, ist in vielen Fällen eine EKG-Überwachung während des Eingriffes erforderlich. »Ebenso ist es sinnvoll, wenn dann ein Arzt für Anästhesie im stand-by ist«, erklärt Jakobs.

Vor einem Eingriff muss der Oralchirurg auch wissen, welche Medikamente der Patient nimmt. »Wir müssen unsere Patienten darum beispielsweise stets nach den vier A’s fragen: Antikoagulantien, Acetylsalizylsäure, Antirheumatika und Antibiotika«, sagt Jakobs.

In Deutschland werden schätzungsweise alleine 900.000 Menschen mit gerinnungshemmenden Medikamenten (Antikoagulantien) behandelt. Vorhofflimmern – eine häufige Herzrhythmusstörung -, mechanische Herzklappen und die sogenannte Sekundärprävention, die Vermeidung von erneuten Thrombosen (Blutgerinnseln), etwa nach einer Beinvenenthrombose oder einer Lungenembolie, sind die häufigsten Indikationen für eine solche Behandlung.

Gerinnungshemmer auf keinen Fall ohne Rücksprache absetzen. Hinzu kommen viele Patienten mit Herz-Kreislauferkrankungen, die mit Thrombozyten-Aggregationshemmern wie Acetylsalicylsäure behandelt werden. Durch diese Behandlung wollen Ärzte einem Verschluss von Blutgefäßen vorbeugen. »In den meisten Fällen besteht bei diesen Therapien eine vitale Indikation«, betont Jakobs. Darum dürfe eine solche Medikation vor einem oralchirurgischen Eingriff auf keinen Fall ohne Rücksprache mit dem behandelnden Hausarzt oder Internisten abgesetzt werden. Bei einem Patienten mit Vorhofflimmern beispielsweise, stellt dies ein lebensbedrohliches Risiko dar.

Ohnehin ist das Absetzen der Behandlung oder die Umstellung auf Heparin in vielen Fällen nicht erforderlich. Die Studienlage ist hier inzwischen eindeutig: »Bei einem einfachen oralchirurgischen Eingriff müssen Antikoagulantien (z.B. Marcumar) oder Acetylsalicylsäure sowie andere blutverdünnende Medikamente in der Regel nicht abgesetzt werden«, erklärt Priv. Doz. Dr. Dr. Daniel Rothamel von der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Köln.

Vitales Risiko beim Absetzen kann hoch sein. Werden die Medikamente abgesetzt, ist das Risiko von Thrombosen und Embolien sehr viel höher als das theoretisch bestehende Risiko einer lebensbedrohlichen Blutung aufgrund des oralchirurgischen Eingriffs. Hier ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zahnarzt und Hausarzt gefragt, da auch von Seiten der Hausärzte die Gefahr einer Blutung nach oralchirurgischen Behandlungen häufig überschätzt wird.

Liegt die Intensität der Gerinnungshemmung* in einem üblichen Bereich, ist das postoperative Blutungsrisiko bei kleineren Eingriffen, etwa einer Extraktion oder auch einer Implantation, nicht höher als bei gesunden Menschen. Rothamel: »Lokale Maßnahmen zur Blutstillung, etwa Kollagenschwämme, die in die Wunde eingesetzt werden, eine sorgfältige Nahtversorgung, eventuell in Verbindung mit einer Verbandsplatte sowie Mundspülungen mit Tranexamsäure sind in der Regel ausreichend.« Noch nicht einig sind sich die Experten indes, ob die vollständige plastische Deckung einer Extraktionswunde mit einem Gewebelappen sinnvoll ist, oder ob das hierdurch verursachte zusätzliche Gewebstrauma das Auftreten von Nachblutungen zusätzlich begünstigt.

Letzte Aktualisierung am Donnerstag, 13 November 2009