Eigentlich lag es schon drei Jahre zurück, daß Martina M. eine neue
Krone bekommen hatte. Die war ein wenig zu hoch gewesen, aber die
berufstätige Mutter fand keine Zeit, sich darum zu kümmern. Und
irgendwann hatte sie sich an die Krone gewöhnt. Doch eines Tages – sie
hatte zu der Zeit viel Ärger im Betrieb – bekam sie starke
Kopfschmerzen, die immer wiederkehrten.
Martina M. wandte sich an einen Neurologen, der lange keinen Rat wußte
und sie schließlich an einen Zahnarzt überwies. Der stellte eine
Fehlfunktion des Kiefergelenks fest, eine cranio-mandibuläre
Dysfunktion (CMD).
Mehr als jeder zweite hat zeitweilig eine CMD
Diese Störung, so wenig bekannt sie ist, kommt möglicherweise sehr
häufig vor: Schätzungen zufolge machen sie 60 Prozent der Bevölkerung
zumindest zeitweise zu schaffen, Frauen achtmal häufiger als Männern.
Jahrelang kann sie symptomlos verlaufen, weil die Gelenke, Muskeln,
Bänder und Sehnen Fehlbelastungen kompensieren.
Aber plötzlich treten Beschwerden auf, wenn eine weitere, auch
harmlose, Belastung hinzukommt: etwa durch berufliche oder familiäre
Schwierigkeiten, eine weitere zahnärztliche Behandlung, Krankheiten
oder einfach Alterung des Gewebes.
Bei einer CMD stehen am Anfang am häufigsten Füllungen, Kronen oder
Brücken, die nicht exakt auf Bißhöhe abgeschliffen wurden, eventuell
gar mit dem Argument: „Das beißt sich ein.“ Schlecht angepaßte
Zahnspangen oder Prothesen sind ebenfalls mögliche Wurzeln des Übels.
„Die Zahnfront mag wunderschön aussehen, aber dahinter stimmt nichts
mehr, die Bißlage ist falsch“, so der niedergelassene Zahnarzt Dr.
Michael Weiss aus Ulm bei einer Tagung in Tübingen.
Zähneknirschen kann ebenfalls den Grundstein für eine CMD legen: „Das
Kauorgan dient als Ventil: Bei Streß beißt man die Zähne zusammen.
Schon Kinder knirschen sehr viel“, sagte Weiss.
Beim Knirschen entstehen Kräfte von 1000 Newton
Allerdings kann diese Angewohnheit etwa durch einen unzulänglichen
Zahnersatz überhaupt erst entstehen. Dann mahlen die Zähne über Stunden
und mit einem Druck bis 1 000 Newton aufeinander. Zum Vergleich: Beim
Kauen berühren sich die Zähne im Mittel etwa 15 Minuten täglich mit
bloß 50 bis 60 Newton.
Weitere Risiken für eine CMD sind eine schiefe Körperhaltung, zum
Beispiel bei der Arbeit vorm Computer, die auch das Kiefergelenk
belasten. Auch Verletzungen, etwa ein Kinnhaken, ein Schleudertrauma
bei einem Autounfall oder bei einer Intubation zur Narkose, ferner
Erkrankungen wie Fibromyalgie oder Polyarthritis, kommen als Auslöser
in Frage.
Die Folge ist eine Schädigung der Kiefergelenke: Es kommt zu
Verspannungen der Muskeln, die auch in benachbarte Körperregionen
ausstrahlen, zu Verlagerungen des Diskus, zu Arthrose oder Arthritis.
„Die CMD ist wie ein Chamäleon, denn sie kann sich in einem Spektrum
von Symptomen äußern: Schmerzen oder Blockaden beim Kauen, Knacken oder
Reiben im Kiefergelenk, Kopf-, Gesichts- oder Zahnschmerzen, Nacken-,
Schulter- oder Rückenschmerzen, Beschwerden an Augen oder Ohren, sogar
Tinnitus“, so Weiss.
Charakteristisch ist, daß kaum jemand solche Symptome mit einer CMD in
Verbindung bringt. Die meisten Patienten gehen wegen Migräne zum
Neurologen oder wegen Rückenschmerzen zum Orthopäden, aber selten zum
Zahnarzt, obwohl er für das Kiefergelenk zuständig ist und die Störung
durch einfache Untersuchungen erkennen kann. Eventuell läßt er einen
Verdacht durch eine Magnetresonanz-Tomographie der Kiefergelenke klären.
Sinnvoll ist eine Funktionsanalyse: Die Bewegungen des Kiefers werden
elektronisch mit einer Art Kopfhaube samt Gestänge vermessen
(Axiographie) und die Daten in einen Kausimulator einprogrammiert. Der
ahmt mit eingespannten Gipsmodellen des Ober- und Unterkiefers der
Betroffenen die Kauvorgänge nach. So lassen sich Fehlstellungen und
-funktionen feststellen und Schlußfolgerungen für die Therapie ziehen.
Knirscherschiene nimmt nicht das Knirschen, aber den Druck
Anhand der Ergebnisse der Funktionsanalyse korrigiert der Zahnarzt das
Gebiß oder fertigt eine Schiene an, die der Betroffene meist nachts
trägt und regelmäßig warten lassen sollte. „Man kann zwar niemandem das
Knirschen nehmen, aber den Druck gleichmäßig auf die oberen oder
unteren Zähne verteilen und sie vor weiterer Abnutzung schützen“,
erläuterte Weiss.
Zusätzlich hilft oft Entspannungstraining oder Physiotherapie. Für die
Behandlung bei CMD brauche man einen guten Zahnarzt, der Wert auf
Diagnostik legt, eine Funktionsanalyse macht und einen Plan für die
Prophylaxe erstellt.
Von Angela Speth
Weitere Informationen im Internet zu Diagnostik und Therapie bei CMD:
Leitliniengruppe „Schmerz und Zahnärztliche Anästhesie“ der Deutschen
Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie,
www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/007-059.htm