Neuen Unterkiefer im eigenen Rücken gezüchtet
Dank eines neuartigen Unterkieferimplantats konnte ein 56jähriger
Krebspatient nach acht Jahren erstmals wieder eine feste Mahlzeit zu
sich nehmen – ein Wurstbrot. Der neue Unterkiefer, den Kieler Forscher
am Computer passgenau entworfen haben, war im Rückenmuskel des
Patienten herangewachsen und ihm anschließend implantiert worden.
Bereits vier Wochen nach der Operation funktionierte der neue Kiefer so
gut, dass der Mann wieder kauen konnte. Das berichten Patrick Warnke
von der Universität Kiel und seine Kollegen in der Fachzeitschrift The
Lancet (Bd. 364, S. 766).
Wegen einer Tumorerkrankung der Mundhöhle war dem 56-Jährigen vor acht
Jahren der größte Teil des Unterkiefers entfernt worden. Seitdem trug
der Patient ein Titanimplantat, das den fehlenden Kiefer zwar optisch
ersetzte, jedoch nicht dazu geeignet war, feste Nahrung zu kauen. Das
neue Implantat sollte dagegen ein vollwertiger Ersatz eines
funktionsfähigen Unterkiefers werden. Um den Ersatzkiefer möglichst
genau der Form des ursprünglichen Kiefers anzupassen, erstellten die
Wissenschaftler mithilfe eines Computertomografen ein dreidimensionales
Bild vom Kopf des Patienten und entwarfen einen perfekt passenden
virtuellen Kieferknochen. Nach dieser Vorlage fertigten sie ein
Teflonmodell des neuen Kiefers an, das sie mit einem feinen Titannetz
umwickelten. Anschließend wurde im Labor das Teflon durch den
Knochenbaustein Hydroxylapatit ersetzt.
In dieses Gerüst füllten die Wissenschaftler etwas Knochenmark des
Patienten und brachten es mithilfe eines Knochenwachstumsfaktors dazu,
neue Knochensubstanz zu bilden. Den künstlichen Kiefer verpflanzten
Warnke und sein Team dann in einen Muskel im Rücken des Patienten,
damit sich rund um den neuen Knochen Blutgefäße und Muskelgewebe bilden
konnten. Nach einer Wachstumsphase von sieben Wochen entfernten die
Chirurgen den neuen Unterkiefer aus dem Rücken, setzten ihn in den
Kiefer des Mannes ein und verbanden die neuen Blutgefäße mit der
Blutversorgung des Schädels. "Es passte perfekt", kommentiert Warnke
die rund dreistündige Operation.
Neben der deutlich besseren Passgenauigkeit des Implantats habe die
neue Methode den Vorteil, dass dem Patienten keine Knochenteile aus
anderen Körperbereichen wie Hüfte oder Schienbein entnommen werden
müssten, schreiben die Forscher. Dadurch entstünden bei der
herkömmlichen Vorgehensweise häufig Komplikationen, da diese
künstlichen Bruchstellen sehr anfällig für Folgeerkrankungen seien. Da
der 56-Jährige der erste Patient ist, dem ein auf diese Weise
maßgeschneidertes Implantat eingesetzt wurde, können die Forscher
bislang noch nichts über Langzeiterfolge sagen. Sie sind jedoch
optimistisch, dass sich auch weiterhin alles positiv entwickelt und dem
Mann in etwa einem Jahr dann auch Zähne in den neuen Knochen
implantiert werden können.
ddp/bdw – Ilka Lehnen-Beyel