Knochen- und Knochenersatzmaterialien zur parodontalen Regeneration und zum Knochenaufbau für Implan
HINTERGRUND: Die Anwendung von biologischen und synthetischen
Knochenmaterialien soll als moderne Technologie bei chronischer
Parodontitis (Erkrankung des Zahnhalteapparates) den potentiell
drohenden Verlust des Zahnes verhindern und bei bereits eingetretenem
Zahnverlust und unzureichendem lokalen Knochenangebot eine prognostisch
gute Insertion von Implantaten ermöglichen, indem verlorengegangene
parodontale und knöcherne Strukturen des Kiefers wieder
funktionstüchtig aufgebaut werden (Augmentation). Zur Begründung eines
sinnvollen Einsatzes dieser Materialien gilt es, die Effektivität für
die beiden Situationen 'chronische Parodontitis marginalis' und
'Kieferimplantation bei unzureichendem lokalen Knochenangebot' zu
prüfen.
FRAGESTELLUNG: Wie ist die medizinische Effektivität der verschiedenen
Knochen(ersatz)materialien bei der Parodontalbehandlung und im
Zusammenhang mit Implantaten zu beurteilen und welche Empfehlungen
lassen sich daraus für die praktische Anwendung ableiten?
METHODIK: Die Zielpopulation sind Patienten, die (1) eine definierte,
behandlungsbedürftige chronische Parodontitis marginalis mit
Substanzverlust am Zahnhalteapparat aufweisen oder (2) mindestens eine
Implantatinsertion bei unzureichender physiologischer Knochenstruktur
erhalten sollen. Primäre Ergebnisparameter für die Zielpopulation (1)
sind die Reduktion der Sondierungstiefe, der Attachmentgewinn und ein
nachweisbarer Knochengewinn. Ergebnisparameter für die Zielpopulation
(2) ist die Überlebensrate der inserierten Implantate (in %).
Ausgewertet wurden Publikationen von 1990 bis August 2000 (Update mit
ausgewählten Datenquellen im Januar 2002), die aus folgenden
Datenbanken rekrutiert wurden: MEDLINE, SOMED, NEED, DARE, HTA, THE
COCHRANE LIBRARY, GBV, HealthSTAR, HSTAT, EMBASE und Publikationslisten
von HTA-Organisationen via Internet. Die Publikationen mussten
vordefinierte Einschlusskriterien erfüllen und wurden auf methodische
Qualität anhand von Checklisten überprüft. Die Informationssynthese
erfolgte qualitativ beschreibend und in tabellarischer Aufbereitung
oder in Form von Metaanalysen.
ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN: Insgesamt konnten zwei systematische
Reviews und 53 Primärstudien ausgewertet werden. Für die Übertragung
der Effektivitätsnachweise auf die Alltagssituation in der Praxis
(Effectiveness) ist die Einhaltung der optimalen Therapiebedingungen
für beide Zielkonditionen zu beachten. Die Forschungsfragen können wie
folgt beantwortet werden: 1. Aus den gepoolten Daten über alle Knochen-
und Knochenersatzmaterialien hinweg ließen sich im Vergleich zur
Kontrollgruppe für die verschiedenen Outcomeparameter eine Reduktion
der Sondierungstiefe von 0,68 mm (95% KI: 0,40 mm; 0,95 mm), ein Gewinn
an Attachment von 0,82 mm (95% KI: 0,49 mm; 1,14 mm) und ein knöcherner
Gewinn von 1,40 mm (95% KI: 1,02 mm; 1,79 mm) zeigen. Die statistische
Heterogenität war bei allen drei Parametern signifikant. Bezogen auf
die einzelnen untersuchten Materialien lagen lediglich für DFDBA mehr
als zwei Studien vor. Hier lagen die zusätzliche Reduktion der
Sondierungstiefe bei 0,59 mm (95% KI: 0,14 mm; 1,04 mm), der
zusätzliche Gewinn an Attachment bei 0,79 mm (95% KI: 0,44 mm; 1,14 mm)
und der zusätzliche knöcherne Gewinn bei 1,86 mm (95% KI: 1,52 mm; 2,20
mm), allerdings ebenfalls bei signifikanter statistischer
Heterogenität. 2. Die wenigen direkten Vergleiche zwischen den Knochen-
und Knochenersatzmaterialien zeigten kaum signifikante Unterschiede.
Die Datenlage mit direkten Vergleichen der Materialien ist zu gering,
um weitergehende Schlüsse ziehen zu können. 3a. Beim Einsatz von
Membranen war das Ausmaß des Zugewinns gegenüber der Kontrollgruppe in
der gleichen Größenordnung wie bei der Verwendung von Knochen- und
Knochenersatzmaterialien. Die Gruppe der Membrane ist allerdings
weniger heterogen, so dass die Datenlage bei insgesamt ähnlich hohen
Fallzahlen robuster ist als für die einzelnen Knochen- und
Knochenersatzmaterialien. Die meisten der bisherigen Studien wurden mit
nicht-resorbierbaren e-PTFE-Membranen durchgeführt. Der dadurch
notwendige Zweiteingriff zur Entfernung der Membranen kann durch den
Einsatz von resorbierbaren Membranen verhindert werden. Dieser
Membrantyp sollte daher verstärkt in Studien berücksichtigt werden. 3b.
Die additive Verwendung von Membranen zusätzlich zu Knochen-, bzw.
Knochenersatzmaterialien zeigte keine signifikanten Vorteile. 4. Die
Berichtsqualität über Nebenwirkungen und Risiken der Technologie ist
unzureichend. Vereinzelt wird über Entzündung, Sequestrierung ("toter
Knochen") und Membranexpositionen berichtet. Die Infektiosität ist bei
menschlichen Fremdspenden aus Knochenbanken nicht sicher
auszuschließen. 5. Für Defekte des Levels 1 (bis 3 mm Sondierungstiefe)
sind konservative oder einfache chirurgische Behandlungen (open flap
debridement, OFD) ausreichend. Inwieweit ein Zugewinn bei den
Surrogatparametern von ca. 1-2 mm einen klinisch bedeutungsvollen
Effekt im Sinne eines längeren Zahnerhalts hat, läßt sich anhand der
vorliegenden Studien nicht abschätzen. 6. Bevor die Behandlung mit
Knochen- und Knochenersatzmaterialien empfohlen werden kann, sollten
Studien mit höheren Patientenzahlen und längeren Nachbeobachtungszeiten
durchgeführt werden. Dabei sollte auch der Zahnverlust als ein Endpunkt
bzw. Outcomeparameter erwogen werden. Die Komplikationen der Eingriffe
sollten systematisch erfasst werden. Die Wirksamkeit sollte auch unter
alltagsähnlichen Bedingungen evaluiert werden. Zur Effektivität und zum
Einsatz der Knochen(ersatz)materialien und Membranen zum Knochenaufbau
bei Implantaten: 7. Die klinische Erfolgsrate von Implantaten
entspricht in augmentierten Kieferbe-reichen in den meisten Studien
annähernd der von Zahnimplantaten in Kieferabschnitten mit
physiologisch ausreichendem Knochenangebot (in der Regel 90 bis 100%).
Daher ist das Therapieverfahren der Augmentation mit
Knochen(ersatz)-materialien im Zusammenhang mit Implantaten
grundsätzlich berechtigt, die Nachbeobachtungszeiten waren in den
vorhandenen Studien allerdings zu kurz, um Aussagen über einen Zeitraum
von fünf Jahren hinaus treffen zu können. 8. Materialbezogene
Unterschiede ließen sich aufgrund der Studiendesigns (Verwendung der
Materialien in Abhängigkeit von der Lokalisation) nicht untersuchen. 9.
Der zusätzliche Einsatz von Membranen zeigte in den vorliegenden
Studien kei-nen deutlichen Vorteil. Aussagekräftige Vergleichsstudien
sollten insbesondere vor dem Hintergrund der zusätzlichen Belastung bei
der operativen Entfernung der nicht-resorbierbaren Membranen einer
Empfehlung zum Einsatz vorgeschaltet sein. 10. Mögliche Nebenwirkungen
und Risiken sind Entzündungen, Wunddehiszenzen, Exposition der
Barriere, Sequesterbildung ("toter Knochen"), Sensibilitätsstörungen
und insbesondere bei der Sinusaugmentation eine Perforation der
Kieferhöhlenschleimhaut. Qualitative und quantitative Bewertungen sind
in der Literatur jedoch weder systematisch noch ausreichend vorhanden.
11. Die Indikationsstellung für eine Augmentation mit Implantation ist
unter Beach-tung multipler Faktoren zu stellen (patientenindividuelle
lokale und systemische Faktoren) und im Einzelfall sorgfältig zu
prüfen. Die Mundhygiene und die Motivation der Patienten ist sehr
wichtig. Die Ergebnisse hinsichtlich des Effekts des
Implantationszeitpunktes (einzeitiges versus zweizeitiges Vorgehen)
waren widersprüchlich, so dass diese Fragestellung in weiteren
randomisierten Studien aufgenommen werden sollte. 12. Für die
Augmentationsmaterialien und -verfahren in der Implantologie sollten
Studien mit längeren Beobachtungszeiten (unter zehn Jahre), mit
differenzierterer (auch vermehrt patientenorientierter)
Outcomebetrachtung, Angaben zu tatsächlichen Überlebenszeiträumen der
Implantate, patientenbezogener statistischer Auswertung und einer
besseren Berichtsqualität durchgeführt werden. Die Wirksamkeit sollte
auch unter alltagsähnlichen Bedingungen evaluiert werden.
Der komplette Bericht ist
als pdf-Dokument
sowie als Buch vorhanden.
Gernreich NC; Gerhardus A; Velasco-Garrido M
Institution:
Gernreich, Gerhardus: Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung
Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung;
Velasco-Garrido: Technische Universität Berlin,
Publikationsjahr:
2003
Dokumenttyp:
HTA-Bericht
ISBN:
3-537-27032-1