DGI-Jahrestagung in Göttingen: Implantologie 2003: Alte Dogmen  neue Trends

DGI-Jahrestagung in Göttingen: Implantologie 2003: Alte Dogmen – neue Trends

In der Implantologie ist viel Bewegung. Der Bruch mit chirurgischen
Dogmen steht auf der Tagesordnung. Bestimmte Krankheiten sind keine
Kontraindikation mehr. Implantate sollten so früh wie möglich
eingepflanzt werden. Diesbezüglich sind sich die Experten auf der
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Implantologie in Göttingen
einig. Doch wie schnell dürfen die künstlichen Zahnwurzeln nach der
Implantation belastet werden? Darüber wird noch heftig diskutiert.
Gleichzeitig experimentieren die Forscher mit neuen Strategien:
Beschichtete Implantate sollen die Einheilzeit verkürzen.
Die Zahnärzte sind bei der Implantation künstlicher Zahnwurzeln in den
letzten Jahren mutiger geworden. Sie pflanzen die Pfeiler aus Titan
inzwischen beispielsweise auch Patienten mit Osteoporose oder Diabetes
ein. „Wir wissen“, erklärt Professor Henning Schliephake, Präsident der
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Implantologie, „unter
welchen Umständen wir bei Patientinnen und Patienten mit Osteoporose
implantieren können. Wenn wir chirurgisch anders vorgehen, das
Implantatlager anders aufbereiten und auf die wesentlich schlechtere
Knochenstruktur Rücksicht nehmen, ist dies möglich.“ Auch ein Diabetes
mellitus ist grundsätzlich keine Kontraindikation mehr. Wenn der
Blutzuckerspiegel gut eingestellt ist, spricht nichts gegen eine
Implantation.

Sofort-Implantation. Während die Zahnärzte früher zwischen
Zahnextraktion und Implantation mehrere Monate verstreichen ließen,
pflanzen sie die künstliche Wurzel heute unmittelbar nach der
Extraktion in das vorhandene Zahnfach ein. „Früher hieß es“, formuliert
Schliephake salopp, „Zahn raus, mindestens ein halbes Jahr warten und
dann implantieren. Das macht heute bei einer geplanten Zahnentfernung
und ausreichendem Knochenangebot niemand mehr.“ Nur bei akuten oder
ausgeprägten chronischen Entzündungen sowie ausgedehnten Schäden an
Weichteilen und Knochen, etwa nach einem Unfall, ist diese
Sofort-Implantation nicht empfehlenswert. In solchen Fällen muss man
die Heilung abwarten, was nach etwa sechs bis zwölf Wochen der Fall ist.

Ab wann belasten? Doch selbst wenn die Implantation unmittelbar auf die
Extraktion eines Zahnes folgt, galt bis vor kurzem eine eherne Regel:
Das Implantat darf in der etwa zwei bis sechs Monate dauernden
Einheilzeit nicht belastet werden. Je früher die künstlichen Wurzeln
unter Druck geraten, desto größer ist das Risiko des
Implantatverlustes. Dies belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien.

Bislang akzeptierten die Experten nur eine Ausnahme: Werden in der
Mitte eines zahnlosen Unterkiefers vier bis sechs Implantate durch
einen Steg verbunden – Zahnärzte sprechen von »Verblockung« – können
sie sofort durch eine Vollprothese belastet werden. Denn diese wird
nicht nur von dem einzelnen Implantat, sondern von einem
Implantat-Verbund und vom Weichgewebe des Kieferkammes abgestützt.

„Wir verstehen jedoch zunehmend die Mechanismen der Heilung, der
Regeneration und Neubildung von Knochen“, erklärt Schliephake, „ebenso
lernen wir, wie diese Prozesse molekular gesteuert werden.“ Mit diesem
Wissen suchen die Experten nach Strategien, um die Einheilung des
Implantats zu beschleunigen.

Die Veränderung der Implantat-Oberfläche ist eine Möglichkeit, den
Heilungsprozess zu beschleunigen. Bereits etabliert ist beispielsweise
die Erhöhung der Rauigkeit. Ebenso gibt es Versuche, die Oberfläche von
Implantaten chemisch zu verändern. Ziel ist der Austausch von Ionen
zwischen Implantat und Knochen, damit es zu einer guten Verbindung
kommt.

„Der jünste Ansatz ist der Versuch, die Oberfläche biochemisch zu
verändern, beispielsweise durch eine Beschichtung mit Kollagen“,
erklärt Schliephake. Durch eine solche „biomimetische
Implantatbeschichtung“, also die Imitation biologischer Verhältnisse,
versuchen die Experten, der Implantatoberfläche eine Struktur zu geben,
die dem normalen Knochengewebe ähnelt. Diese soll dazu führen, dass das
Implantat schneller im knöchernen Gewebe verankert wird.
Ebenso arbeiten die Wissenschaftler an Beschichtungen, die darüber
hinaus noch Wachstumsfaktoren und andere Signalmoleküle freisetzen,
welche etwa die Zellteilung oder auch andere Funktionen der umgebenden
Zellen beeinflussen. Auch dies könnte die Verankerung von Implantaten
im Knochen beschleunigen. „Aber hier stehen wir erst am Anfang“, betont
Schliephake. Die biomimetischen Oberflächen stecken noch in den
Kinderschuhen und werden erst experimentell erprobt. „So ist noch
völlig offen“, sagt der Göttinger Experte, „ob die zarten Signale, die
derzeit von der Beschichtung ausgehen, das große Signalrauschen im
Körper überhaupt übertönen können.“

Mehr Knochenwachstum durch frühere Belastung? Im Gegensatz zur
Zukunftsmusik der Beschichtungen profitieren Patienten schon jetzt von
neuen Konzepten für die frühere Belastung – vorausgesetzt das
Knochenangebot ist ausreichend und der Zahnarzt kann ohne
Ersatzmaterialien und Knochenverpflanzung implantieren. Die bisherige
Lehrmeinung, dass Implantate drei Monate (im Unterkiefer) bzw. sechs
Monate lang im Oberkiefer völlig unbelastet einheilen müssen und erst
danach mit dem prothetischen Aufbau begonnen wird, ist bei diesen
unkomplizierten Fällen in den letzten Jahren ins Wanken geraten.

Inzwischen wissen die Experten, dass Mikrobewegungen des Implantats
unbedingt vermieden werden müssen, damit es gut einheilt. Diese
Mikrobewegungen lassen sich etwa durch operative Strategien und die
„Verblockung“ der Implantate verhindern.

Erste Studien deuten darauf hin, dass sich Knochengewebe bei einer
früheren Belastung besser an das Implantat anlagert als wenn dieses bis
zur völligen Einheilung gar nicht belastet wird. Die „absolute
Schonphase“, die der Ruhigstellungsphase bei einem Knochenbruch
entspricht, reduzieren manche Experten inzwischen auf vier bis sechs
Wochen. Danach werden die Implantate steigend belastet, um das
Knochenwachstum zu stimulieren.

Die Verfechter der „dynamischen Einheilung“, etwa das Team um Professor
Georg Nentwig von der Klinik für MKG-Chirurgie der Universität
Frankfurt, versorgen die Implantate sechs Wochen nach der Implantation
mit einem provisorischen festsitzenden Zahnersatz und steigern während
der darauf folgenden sechs Wochen langsam die Belastung. In den ersten
drei Wochen ist noch „Weichkost“ angesagt. Danach wird die Nahrung
langsam fester. In dieser Zeit laufen auch bereits die Vorbereitungen
für die endgültige prothetische Versorgung. Diese wird dann nach 12
Wochen eingesetzt, wenn der Einheilungsprozess vollständig
abgeschlossen ist. Erprobt haben die Experten dieses Knochentraining
bislang bei 35 Patienten, die insgesamt 50 Implantate erhalten haben
(31 im Unterkiefer, 21 im Oberkiefer). Allerdings beträgt die
Nachbeobachtungszeit der Implantate gerade drei Monate.

Darum warnt Dr. Ackermann vor „Früh-Euphorie“ in Sachen
Früh-Versorgung: „Wir sollten nicht die Sicherheit der Versorgung ohne
Grund einer Schnelligkeit opfern, die oft nicht nötig ist".

Rückfragen an:
Prof. Dr. Dr. Henning Schliephake
Vizepräsident der DGI und Tagungsleiter
Georg-August-Universität Göttingen, Mund-, Kiefer- u. Gesichtschirurgie
Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen
Tel.: 0551/39 83 43, Fax: 0551/391 26 53
E-mail: schliephake.henning@med.uni-goettingen.de
und
Dr. Karl-Ludwig Ackermann
Talstraße 23, 70794 Filderstadt
Tel.: 0711-7 08 81-0, Fax: 0711-7 08 81-23
E-mail: KL.Ackermann@KirschAckermann.de

Letzte Aktualisierung am Montag, 29. November 1999