DGÄZ-INTERNA mit Ausnahme-Programm: Multidisziplinär, international, wissenschaftlich – und praxisnah

Dennoch ging der recht einzigartige familiäre Charakter dieser
Traditions-Veranstaltung in der Heimat der DGÄZ nicht verloren: Das lag
einerseits an Tagungsleiter Wolfgang-M. Boer, der seine prominenten
Referenten ebenso herzlich willkommen hieß wie in den Vorjahren die
Newcomer – und andererseits an den Referenten selbst, die der DGÄZ schon
viele Jahre verbunden sind und „zur Familie“ gehören. Eine schöne Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis, Erfahrung und Neuland schlug am Samstag Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Meyer als „bekennender DGÄZ-ler“ in seiner Rolle als Moderator des Programms. Es sei durchaus ein Ausnahme-Programm, was Wolfgang-M. Boer diesmal zusammengestellt habe, sagte DGÄZ-Präsident Prof. Dr. mult. Robert Sader bei der Eröffnung.

Der Einstieg begann philosophisch: Was macht Ästhetik so begehrt? Der Begriff selbst sei eine enge Verbindung mit Schönheit eingegangen, sagte Prof. Carlo Zappala (Varese und Rom, Italien). Was ästhetisch oder schön sei, werde heute oft durch die Industrie gesteuert – wer „dazugehören“ wolle, müsse entsprechende Produkte kaufen. Auf alten Gemälden modelliere Licht und Schatten eine Spannung. Das Prinzip gelte auch für Ästhetik und Zähne: „Schatten und Struktur sind wichtig – viel wichtiger als die perfekte Farbe!“ Zurück zum praxisnahen Alltag führte Dr. Markus Schlee (Forchheim) mit dem Thema Hart- und Weichgewebemanagement um Implantate in der ästhetischen Zone. Nach einer Übersicht über reproduzierbare Verfahren fragte er: „Sind diese Methoden sicher – oder nur in den Händen bestimmter Menschen?“ Gewebeverlust nach Extraktion aufzubauen sei nicht zuletzt auch für den Erhalt der Papille wichtig: „Sie braucht etwas zum Anlehnen…“ Eine interessante Übersicht bot die Multicenter-Studie der DGÄZ-Spezialisten zu klinischen Komplikationen bei adhäsiven Frontzahnrestaurationen, präsentiert von ZA Michael Melerski (Berlin): Demnach fanden sich Keramikfrakturen bei 3 – 34 % der Fälle, Randdefekte/Mikroleckagen bis 0 – 25 %, Retentionsverlust bei 0 – 9 %, Randverfärbungen bei 7 – 13 % und postadhäsive Farbveränderungen bei 0 – 3 % der Fälle.

Eindrucksvoll war der Ausflug von Professor Meyer in die Neurologie: „Zähne sind Tastwerkzeuge, mit höchst sensiblen Mechanorezeptoren im Zahnhalteapparat – was passiert im Gehirn, wenn wir kauen?“ Nach einer Restauration und Änderung der Zahnfunktion brauche das Gehirn Zeit zum Umlernen. Wenn ein Patient dankbar äußere, dass die Zähne „wie früher“ passen, habe das Gehirn die „alten Diagramme“ wiedererkannt. Das untermauerte Prof. Dr. Bernd Kordaß (Greifswald) mit Blick auf cerebrale Konsequenzen funktionstherapeutischer Verfahren. Der für Zunge und Mund zuständige Bereich im Hirn sei in seiner Wertigkeit vergleichsweise enorm groß, das Sensorium Mundhöhle besitze eine enorme Taktilität, insofern führten bereits leichte Veränderungen im Bereich der Okklusion zu deutlichen Auswirkungen wie beispielsweise Muskel-Gelenk-Schmerzen. Es gelte, Patienten ihre „okklusale Heimat wiederzugeben.“

Über Kieferorthopädie und Ästhetik berichtete Prof. Dr. Heinrich Wehrbein (Mainz). Abgesehen von modernen Verfahren, die Funktionskorrekturen fast unsichtbar machen und daher ästhetisch ausgerichteten Patienten eine Therapie erleichtern, biete nicht zuletzt die Kombination von Kieferorthopädie und Kieferchirurgie beeindruckende Möglichkeiten, erhebliche Dysmorphien in Kombination mit CMD-Problematik in ein ästhetisches und funktionsgerechtes Ergebnis zu führen. Wer in ein System eingreift, müsse erst einmal wissen: Was ist eigentlich „normal?“ Diesem interessanten Aspekt widmete sich Prof. Luigi Gallo (Zürich): „Wie kommen wir zur Norm – und wie zur Kenntnis?“ Jeder sehe die Welt aus eigener Warte: „Gibt es überhaupt eine gemeinsame externe Realität?“ Um sich einer Antwort zu nähern, benötige man eine sehr große Gruppe an Probanden. „Ein bisschen ist das wie Blindflug, was wir heute oft machen – auch wenn es reproduzierbare Erfolge bringt.“

Auf dem immer aktueller werdenden Bereich der digitalen funktionellen Rekonstruktion der Zahnmorphologie ging Prof. Dr. Albert Mehl (Zürich) ein: „Wie genau ist die digitale Abformung heute?“ Seine Antwort: „In vitro ist jedenfalls besser als in vivo.“ Werde der Gesamtkiefer vermessen, sei die konventionelle Abformung noch im Vorteil. Bei Einzelzahnlösungen oder Brücke gewinne die intraorale digitale Abformung zunehmend an Relevanz. Spannend: ein „Zahn-Synthesizer“, der einem Mischpult ähnlich digitale Zahn- und Kauflächengestaltung ermöglicht. Abschließend griff ZTM Stefan Schunke (Nürnberg) eine verbreitete Frage auf: „15 Konzepte – und welches ist für mich?“ Sein Weg wurde bei Falldarstellungen zu „Lust von Frust in der ästhetischen Funktion“ deutlich: „Ich bin ein großer Freund der Biomechanik!“ Bei einer Bruxismus-Therapie müsse man ganzheitlich denken: Würden Auswirkungen von Fehlfunktion im oralen System vermieden, könne es sein, dass sich der Druck andere Körperbereiche als Ventil sucht.

Letzte Aktualisierung am Dienstag, 22. Mai 2012