DGÄZ-Frühjahrssymposium: America meets Europe – Große Emotionen zum Abschluß
Von großer Begeisterung bis zu Schock und Aufruhr: Das diesjährige Frühjahrssymposium der DGÄZ vom 22. bis 24. Mai 2008 am Tegernsee war mit Sicherheit für alle Beteiligten – die rund 450 Teilnehmer aus 20 Nationen im Auditorium, die Referenten und die Veranstalter – ein unvergessliches Erlebnis. Das von Dr. Siegfried Marquardt (DGÄZ-Vizepräsident / Z.a.T. FortbildungsGmbH) zusammen mit Dr. Michael Cohen (Präsident Seattle Study Club) zusammengestellte Programm stand unter dem Motto „America meets Europe“. Teams aus Kanada und den USA präsentierten ebenso Fall-Lösungen wie ihre Kollegen vom europäischen Festland – und sie traten abschliessend „gegeneinander“ an in der Vorstellung von Behandlungskonzepten für einen identischen Fall.
Beeindruckende Ergebnisse – unterschiedliche Wege
Durch alle drei Kongresstage zog sich ein immens hoher Standard an Falldarstellungen – was von den Kollegen oben auf dem Podium präsentiert wurde, fand enormen Beifall beim Auditorium im Saal und wurden in den Kaffeepausen heiß diskutiert. Spannend war in diesem „Match“ allerdings nicht nur, was die beiden Teams an Konzepten bei anspruchsvoller Aufgabenstellung vorstellten, sondern auch das „wie“. Und hier zeigten sich durchaus Unterschiede: Das Team Amerika präsentierte Behandlungskonzepte und ästhetische Lösungen als Ergebnis interdisziplinärer Diskussionen – fast ständig war von „wir“ die Rede, wenn es um die Therapiedetails ging. Dagegen stellten die europäischen Referenten ihre Fall-Konzepte eher als individuelle Vorgehensweise vor; wo es um „Team“ ging, war vor allem die Zusammenarbeit mit dem Zahntechniker gemeint. Allerdings gab es seitens des Team Europa für das Auditorium auch Tipps für den Praxisalltag, darunter auch solche, wie weniger aufwändiges Vorgehen zur Zufriedenheit der Patienten möglich sein könnten. Unterschiede zeigten auch die Vorstellungen vor allem bei der weißen Ästhetik: Selbst die von den amerikanischen Zahnärzten als „natürlich“ bezeichneten Kronen waren für deutsche Augen zu gleichmäßig: zu weiß, zu opak, zu viel Zahn – und zu glatt poliert. Eine lebendige Oberflächengestaltung zeigten fast ausschließlich die europäischen Präsentationen.
Vom „Wir“, der Idee der Study Clubs – und der Sehnsucht der Zahnärzte
Auffallend beim Team Amerika war die Selbstverständlichkeit, mit der alle Referenten und bei jedem einzelnen Fall die interdisziplinäre Zusammenarbeit mitschwingen ließen. Hier zeigte sich doch eine spürbar anders gelebte kollegiale Mentalität, die vielleicht nicht Amerika-typisch ist, sicher aber „typisch Study Club“. Aus den 1977 ersten Zusammenkünften von Zahnärzten aus Wissenschaft und Praxis, um Fälle und Therapiekonzepte zu diskutieren, sind – so berichtete Team-Amerika-Chef und Seattle Study Club-Präsident Dr. Cohen zu Beginn der Tagung – mittlerweile hunderte von Clubs mit derzeit insgesamt 35.000 Mitgliedern zwischen den Küsten Amerikas bis nach Australien entstanden: „Das Elektrisierende war, dass wir hier auch etwas gemeinsam machten, auch mit Patienten, und nicht nur das reine zuhören.“ Gebraucht würden „Universitäten ohne Grenzwände“, vorhandene Ressourcen könnten erheblich besser genutzt werden als bisher. Weißer Fleck auf der Weltkarte des Seattle Study Clubs ist – derzeit noch – Europa. Eine Fragebogenaktion unter den Tagungsteilnehmern zeigte am Schluß großes Interesse an einer solchen Einrichtung auch in Deutschland: „Beeindruckt hat uns eine geradezu spürbare Sehnsucht der Zahnärzte im Kongress-Saal, mehr mit Kollegen gemeinsam zu schaffen, sich in kleinen Gruppen auszutauschen, Lösungen zusammen zu entwickeln, die über den eigenen Horizont vielleicht hinausgehen“, sagte Tagungsorganisator Dr. Marquardt nach Auswertung der Umfrage und auch vielen Gespräche am Rande der Veranstaltung: „Wir stehen in engem Kontakt mit Dr. Cohen, hier eine erste Seattle Study Club-Initiative in Europa zu starten.“ Kollege Cohen sei von den Leistungen der europäischen Referenten enorm beeindruckt gewesen und habe eine Kooperation bereits avisiert.
Zum Abschluß: Große Emotionen
Am Ende der DGÄZ-Jahrestagung stand diesmal „Debbie“. Die 51jährige amerikanische Patientin, in vielerlei Hinsicht mit ihrer damaligen Lebenssituation unzufrieden, war Ausgangspunkt für eine Art „Therapie-Match“ zwischen dem Team Amerika und des Team Europa. In einem eingespielten Interviewvideo sagte Debbie, die geradezu wütend auf ihre Zähne und ihre damit in Zusammenhang gebrachte Unattraktivität war: „Ich will: Alles raus. Und neue Zähne rein.“ Zu den Grundlagen-Informationen der beiden Teams gehörte auch ein PA-Befund – demnach waren rund 20 Zähne erhaltenswürdig bei guter Prognose. Das hier aus 3 Kollegen bestehende Team Amerika (Dr. Ward Smalley, George V. Duello, Christopher B. Marchack) übermittelte 4 verschiedene Therapiekonzepte, die im Study Club entwickelt worden waren, sie reichten von minimalinvasiver bis radikalinvasiver Vorgehensweise. Das Team Europa (die Teamplanung präsentierten Prof. Dr. Markus B. Hürzeler und Dr. Otto Zuhr) setzten ein sehr vorsichtiges Konzept dagegen, das als zentralen Kern der Vorgehensweise die psychischen Konflikte von Debbie beschrieb. In aufeinander aufbauenden Therapieschritten sollte sowohl die psychogene als auch die dentale Situation der Patientin stabilisiert und letztlich die dentale Situation restauriert werden. Das Konzept erhielt auch seitens des Team Amerika großen Beifall.
Zu einem Moment des Schocks und einem anschließenden Aufruhr sorgte dann die Vorstellung der tatsächlich erfolgten Lösung des Falles „Debbie“: Totalextraktion und Vollprothetik auf rund 16 Implantaten. Das Vorgehen nannte Prof. Dr. Hürzeler eine „Abkehr vom Gedanken des Heilberufes“, eine Teilnehmerin im Saal sprach gar von „dentaler Vergewaltigung“. Der behandelnde Arzt, Parodontologe George V. Duello, verwies auf seine überglückliche Patientin und reagierte auf die Empörung mit einem zwinkernden „You know – we are Cowboys“, betonte aber auch sehr ernsthaft, dass das Lebensglück der Patienten für ihn ausschlaggebend gewesen war, sie habe auch keinerlei weitere PAR-Therapie akzeptiert.
Bewegende Lehre für heikle Momente in der Praxis
Dr. Cohen als Moderator wies darauf hin, dass der Fall „Debbie“ in einigen der Study Clubs bereits diskutiert worden sei – mit sehr verschiedenen Ergebnissen. Der Fall und die bewegende, erfolgte Therapie ließen jeden Zahnarzt den Grundkonflikt überdeutlich spüren, wie weit man dem Patientenwunsch Vorrang vor der eigenen medizinischen Entscheidung geben kann – und will.
„Ich bin überwältigt“, schloß Dr. Marquardt diese herausragende Tagung im beschaulichen Bad Wiessee. Ein großer Dank gehöre den Referenten, die in allen Vorträgen die übermittelten Fragestellungen perfekt aufgegriffen und mit viel Arbeit umgesetzt hätten. Das Publikum – noch immer in schwelendem Aufruhr – dankte der DGÄZ und ihrem Team und den Teams auf dem Podium mit enormem Beifall.