Aktuelle Forschungsergebnisse belegen die allgemeinmedizinische Verantwortung des Zahnarztes
Häufiges Auftreten von Kopfschmerzen oder Tinnitus-Beschwerden, Muskel-
und Rückenverspannungen können auf Fehlstellungen im Kieferbereich
zurückzuführen sein. Deshalb ist bei vielen allgemeinmedizinischen
Diagnosen immer häufiger der ZahnMediziner gefragt. Der folgende
Beitrag stammt aus dem Newsletter der Deutschen Gesellschaft für Zahn-,
Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) "Deutsche ZahnMedizin aktuell",
Ausgabe 3 (s.a. https://www.dgzmk.de), Co-Autor Prof. Georg Meyer ist
Präsident der DGZMK.
Im Rahmen der epidemiologischen "Study of Health in Pomerania" (SHIP)
wurde auf der Basis von 4.255 untersuchten Personen eine Gruppe
identifiziert, die durch häufiges Auftreten von Kopfschmerzen
gekennzeichnet war. Unter den möglichen Risikofaktoren zeigte die
druckempfindliche Kaumuskulatur eine signifikante Beziehung zum
häufigen Auftreten von Kopfschmerzen. Die Autoren (Bernhardt et al.,
Quintessenz Int. 2005) empfehlen bei dieser Patientengruppe auch eine
zahnärztliche Diagnostik und ggf. Therapie.
In einer anderen, ebenfalls international publizierten Studie innerhalb
des Ship-Projektes gibt es vergleichbare Ergebnisse für
Tinnituspatienten, und auch hier wird zahnärztliche Diagnostik und
Therapie gefordert (J Oral Rehabilitation 2004). Lotzmann und
Mitarbeiter kommen in einer diagnostisch-therapeutisch orientierten
zahnmedizinischen Nachuntersuchung von Patienten, bei denen vorher
durch Neurologen die Diagnose "Trigeminusneuralgie" gestellt worden
war, zu dem Ergebnis, dass bei bis zu 50% der Fälle
Kaufunktionsstörungen die eigentlichen Ursachen der neuralgieformen
Symptomatik waren, was durch entsprechende (zahnärztliche)
Therapieerfolge belegt wurde. In experimentellen orthopädischen Studien
konnte diese Arbeitsgruppe zeigen, dass sowohl die Kopf- als auch die
gesamte Körperhaltung durch Veränderung der Kieferrelationen
beeinflusst werden kann. Resultierende muskuläre Hyperaktivitäten mit
Verspannungen und Schmerzen können durch psychoemotionalen Stress
(Volksmund: "die Zähne zusammenbeißen, mit den Zähnen knirschen,
jemandem die Zähne zeigen u.a."), verstärkt werden wie der Schweizer
Professor Graber z.T. sogar in experimentellen Studien belegen konnte.
Eine schwedische und eine amerikanische Arbeitsgruppe kamen in
kontrollierten Studien unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass die
zahnärztliche Schienentherapie in hohem Maße zu einer Entspannung und
Koordination der Kaumuskulatur beitragen kann und somit auch zur
Linderung bzw. Heilung der dadurch verursachten Krankheitssymptome (Fu
et al. J Craniomandibular Practice 2003; Ekberg et al. J Orofacial Pain
2003). Obwohl auf diesem Gebiet noch sehr viel interdisziplinär
ausgerichteter Forschungsbedarf besteht, sollte die Zahnmedizin schon
jetzt in das interdisziplinäre Konsiliar der entsprechenden
Krankheitsbilder einbezogen werden.
Ähnliches gilt für die Parodontologie: "Ask your periodontist about
periodontal disease and heart disease" so der Titel eines Merkblattes
der American Academy of Periodontology, das an Patienten ausgegeben
wird. Es spiegelt aktuelle Wissenschaft wider, die offensichtliche
Zusammenhänge zwischen entzündlichen Parodontalerkrankungen und
Herz-/Kreislauferkrankungen aufzeigt.
Hier gilt die Parodontitis als Risikofaktor bzw. als Risikoindikator
von Arteriosklerose bis hin zum Herzinfarkt. Aortenklappenverkalkung
und das Schlaganfallrisiko zeigen ähnliche Wechselwirkungen zur
Entzündung des Zahnhalteapparates (Desvarieux et al. Stroke 2004).
Die Leukozyten-Anzahl als allgemeiner Marker einer systemischen
Entzündung korreliert am Besten mit der Parodontitis, wie aktuelle
Forschungsergebnisse belegen. Derartige Wechselwirkungen sind durchaus
nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass 9 mm tiefe, entzündete
Zahnfleischtaschen bei voller Bezahnung einer Fläche von ca. 25 cm2
entsprechen, also eine wirklich beachtliche Größe für eine offene Wunde
und damit ein idealer Zugang für die Leitkeime der parodontalen
Entzündung bzw. deren Toxine in den Körper. Im Tiermodell konnte
gezeigt werden, dass eine Injektion dieser Keime in die Blutbahn zu
atypischen und organspezifischen Veränderungen der Blutgerinnung führt.
Es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass Frühgeburten und
niedriges Geburtsgewicht von Kindern ebenfalls in Wechselwirkung mit
entzündlichen parodontalen Erkrankungen stehen können. Eine weitere
Schnittstelle zur Medizin: Großer psychoemotionaler Stress ist für den
Attachmentverlust im Zahnhalteapparat ein ebenso großer Risikofaktor
wie starkes Rauchen. Aufgrund dieser Daten kommt der systematischen
Parodontalbehandlung beim Zahnarzt einschließlich der regelmäßigen
Kontrolle (Recall) ein besonderer gesamtmedizinischer Stellenwert zu.
Vergleichbar mit dem Ersatz von Zähnen durch Implantate, Brücken,
Kronen und auch mit Füllungen werden in allgemeinmedizinischen
Bereichen künstliche Herzklappen, Gefäße, Gelenke u. a. eingesetzt.
Aufgrund jahrzehntelanger werkstoffkundlicher Forschung mit
entsprechendem Wissensvorsprung sollte die Zahnmedizin zukünftig
federführend eine umfassende allgemeinmedizinische Werkstoffkunde
betreiben, die durch eine enge Zusammenarbeit mit Allergologen,
Physiologen, Mikrobiologen, Toxikologen u.a. gekennzeichnet sein
könnte. Schon jetzt zeigt sich, dass die Bioverträglichkeit moderner
(zahn-)ärztlicher Materialien nicht immer unproblematisch ist:
Mikrobiologische, allergologische und andere systemische
Körperreaktionen bedürfen weiterer Forschung (Schmalz et al.,
Biokompatibilität zahnärztlicher Werkstoffe, 2005).
Diese Beispiele für die engen Beziehungen zwischen Zahnmedizin und
Medizin könnten in großer Zahl fortgesetzt werden. Beispiele hierfür:
– Berufliche und soziale Einflussfaktoren können Auswirkungen in der Mundhöhle zeigen
– Immunologische Aspekte (nicht nur Allergien) sind zu berücksichtigen
– Genetische Untersuchungsergebnisse z.B. in der Parodontologie könnten
künftig für diagnostische und therapeutische Entscheidungen eine Rolle
spielen
– Mundschleimhautveränderungen sind frühe Indikatoren für vielfältige allgemeinmedizinische Erkrankungen
Insgesamt gesehen hat die Zahnmedizin heute und in der Zukunft aufgrund
neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse die große Chance und Pflicht
zugleich, medizinischer als je zuvor zu sein. Alle Zahnkliniken in
Deutschland sind integraler Bestandteil medizinischer Fakultäten. Der
Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland hat in seiner aktuellen
Erklärung zur Zukunft der Zahnmedizin keinen Zweifel daran gelassen,
dass es auch zukünftig so bleiben muss. Allerdings fordert er in
Forschung und Lehre eine deutlich engere Vernetzung der Zahnmedizin mit
der allgemeinen Medizin, als es bisher üblich war.
PD Dr. Olaf Bernhardt, Greifswald
Prof. Dr. Georg Meyer, Greifswald
Weitere Informationen:
https://www.dgzmk.de

