Zahn oder Implantat: Die richtige Entscheidung treffen


Zum zehnten Mal in Folge trafen sich Mitte November in Berlin die Absolventen  des Masterstudiengangs Orale Implantologie und Parodontologie von DGI und Steinbeis-Hochschule bei der traditionellen Reunion. Deren besonderes Format und spannende Themen haben dem Treffen schon lange Kultstatus verliehen, der nicht nur Master anlockt.

Den Organisatoren Dr. Derk Siebers MSc., Dr. Jörn Werdelmann MSc. und Peter Albrecht MSc. war es bei dieser Jubiläums-Reunion wieder einmal gelungen, den mehr als einhundert Teilnehmern international renommierte Referenten zu einem wichtigen Thema zu präsentieren. Die Experten aus Deutschland, Italien und den USA beleuchteten unter verschiedenen Aspekten jene Pfade, die zu der Entscheidung führen, ob ein Zahn erhalten werden kann oder durch ein Implantat ersetzt werden sollte. Dabei gilt es, allgemeinzahnärztliche und endodontische, implantologische und parodontologische, restaurativ-ästhetische sowie prothetische-rekonstruktive Faktoren zu berücksichtigen – und nicht zuletzt die Wünsche der Patientinnen und Patienten.

Die Zahnsubstanz respektieren. Einig waren sich die Referenten in einem Punkt: dem generellen Respekt vor der natürlichen Zahnsubstanz. Implantate, so die einhellige Meinung, seien zwar nützlich und aus der Patientenversorgung nicht mehr weg zu denken, doch der Erhalt der natürlichen Zähne habe Vorrang. Implantate sind eine Option der Therapie und nicht ihr Ziel.

Dr. Josef Diemer aus Meckenbeuren, der Generalist mit endodontologischem Schwerpunkt, sieht die Limitation des Zahnerhaltes nicht in der Endodontie selbst, sondern eher in der langfristigen Prognose der anschließenden Restauration: „Der Zahn ist ein biologisches System, das Implantat ist eine Krücke.“

Der Parodontologe Prof. Dr. Hannes Wachtel aus München erweitert die Sichtweise auf das Problem durch die Einbeziehung des Wunsches des einzelnen Patienten, dessen Erwartung sowie seiner physischen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen. „Erst dann haben wir die Antwort, ob in einem individuellen Fall das Implantat der bessere Zahn ist.“

Demgegenüber vertritt der zweite Generalist Dr. Guiseppe Allais aus Turin die absolute Priorität des Zahnerhaltes. „Ich bin für den Zahn, aber nicht gegen Implantate. Das Implantat ist nur dann der beste Zahn, wenn der natürliche Zahn fehlt.“

Der Prothetiker Prof. Dr. Markus Blatz, Pennsylvania, beschrieb eine Reihe von prothetischen Alternativen zum Implantat. Er betont die Bedeutung der wissenschaftlichen Evidenz ebenso wie die Notwendigkeit, den Patienten einzubeziehen und erweitert die Entscheidungsgrundlage zur Therapie noch um die klinische Expertise des Behandlers. Dies ist evidenzbasierte Zahnmedizin. Sein Credo: „Es ist wichtig, eine implantologische Versorgung so lange wie möglich zu verzögern. Selbst zehn Jahre sind hier hilfreich.“

Endo für den Zahnerhalt. Grundlage des Konzeptes von Dr. Josef Diemer ist die Priorität des Zahnerhalts. Im Spannungsfeld von ökonomisch limitierter Endodontologie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen und der dogmatischen Ablehnung jeglicher Endodontologie im Rahmen der Fokaltheorie definiert er seine Position als konsequent zahnerhaltend. Seine Kernbotschaften lauten: „die Infektion eliminieren, die Reinfektion vermeiden, die Zahnstruktur erhalten.“

Alles was der Zahnarzt braucht. Ausgehend vom Ergebnis der Therapie, nämlich einer definitiven langlebigen Restauration, legt er daher Wert auf substanzerhaltende Therapieformen. Konsequenterweise setzt er auf den Einsatz des Mikroskops: „Wir haben die Vergrößerung, die Instrumente, wir wissen, wo wir suchen müssen, wir können es finden.“ Wichtig ist die extensive Spülung, da letztendlich das Biofilmmanagement auch im Wurzelkanal das Therapieziel darstellt. Entscheidend ist – erstens – die konsequente, anatomisch orientierte möglichst substanzschonende Darstellung der Kanaleingänge unter Belassung von Teilen des Pulpendaches. „Oft werden Kanäle übersehen. Es ist daher wichtig, die Messung zu röntgen und man muss auch das Röntgenbild interpretieren lernen.“ Zweitens: der Verzicht auf extrem getaperte Aufbereitungen, und – drittens – die Ein-Stift-Methode bei der Abfüllung.  Diemer: „Dies garantiert den Substanzerhalt.“

Endo muss man fühlen lernen. All diese Aufbereitungsmethoden sind nicht nur extrem technik-sensitiv. Hinzu kommen Expertise und Geschicklichkeit des Behandlers als wesentliche Faktoren des Erfolgs. Letztendliches Therapieziel ist die nachhaltige, langfristige restaurative Prognose. Diese erreicht man durch maximalen Substanz- und damit Strukturerhalt des Zahnes, die „Ferrule-Präparation“, die Verhinderung des koronaren „Lecks“. Die Bedeutung des adhäsiv verankerten Stiftes steht deutlich hinter der Notwendigkeit zum Substanzerhalt zurück. Ebenso hat die chirurgische Therapie mit Wurzelspitzenresektionen nur in extrem wenigen Fällen noch Bedeutung. Auch zur Fortbildung hat Josef Diemer eine klare Meinung: „Aufbereiten kann man nur praktisch lernen.“ Oft werde von Behandlern viel zu viel Kraft aufgewendet. Diemer: „Man muss Endo fühlen, sie sieht man nicht auf dem Röntgenbild.“

„It needs a dentist to loose a tooth.“ Für Professor Hannes Wachtel ist die Studienlage ist eindeutig: Implantate haben ein sehr gute Langzeitprognose. Sowohl die Überlebensrate als auch die Funktionalität seien über lange Jahre gegeben. „Es ist eher die Prothetik, die Probleme macht, weniger das Implantat.“ Die Expertise des Behandlers ist ein wesentlicher Faktor für die Zahnerhaltung auch aus parodontologischer Sicht. Wachtel: „It needs a dentist to loose a tooth.“

Entscheidend für den Erhalt sowohl der Implantate als auch der eigenen Zähne ist die Kontrolle des Biofilmes. Vor diesem Hintergrund zumindest sind Implantate den Zähnen ebenbürtig. Doch es gibt gleichwohl Unterschiede: Selbst parodontal hoffnungslos eingeschätzte Zähne können heute erhalten werden, während es immer noch unkontrollierbare Faktoren gibt, die zum Implantatverlust führen können. Wachtel: „Jeder, der Implantate setzt, weiß, dass es viele Gründe für Knochenabbau gibt, die mit Bakterien nichts zu tun haben.“ Es gib Dinge, so der Experte, „die wir nicht kennen und wir können nicht alles in einen Topf werfen.“ Sein Fazit: Man kann nicht alle Risikofaktoren bis ans Lebensende unter Kontrolle behalten. Die Fragestellung des Tages wird von Prof. Wachtel darum so auf den Punkt gebracht: „Wann ist das Implantat der bessere Zahn?“

Der Patient muss mitspielen. Zur Beantwortung der Frage bezieht der Referent den Patienten mit ein. Die zu wählende Versorgung hängt wesentlich von der Patientenerwartung, der Patientenrealität, und seiner Konstitution ab – und dessen Bereitschaft, Verantwortung für seine Mundhygiene zu übernehmen. Ein regelmäßiges Monitoring erhält die Zähne. Wachtel: „Wir können Zähne erhalten mit einem großen Attachmentverlust. Selbst wenn 70 Prozent des Gewebes weg sind, kann man mit 30 Prozent den Zahn zehn bis 15 Jahre erhalten, wenn es gelingt, die Progression des Knochenverlustes zu bremsen. Mit eindrucksvollen Fallbeispielen präsentierte Professor Wachtel sehr unterschiedliche Situationen: ganz ohne Versorgung („Mut zur Lücke“), ein Lückenschluss durch Implantate auch im parodontal kompromittierten aber hygienisch kontrollierten Gebiss, eine herausnehmbare Versorgung nach dem Stable Base Konzept mit resilienter Klammerverankerung bis hin zu einer Rekonstruktion nach dem All-on-4-Konzept nach erfolgter Reihenextraktion. Geht es um die beste individuelle Therapie erinnert Professor Wachtel daran, dass Zahnärzte auch Ärzte seien: „Es geht letztendlich um die Lebensqualität unserer Patienten.“

Oft vergessen: der Zahn ist ein Sinnesorgan. Für Dr. Giuseppe Allais, den niedergelassenen Generalisten und Spezialisten für ästhetische adhäsive Rekonstruktion, hat der eigene Zahn bedingungslos Vorrang. Daher widerspricht er Professor Wachtel bei der Frage nach der besseren Alternative. Der Zahnarzt sei letztendlich der Richter, der entscheidet, ob ein Zahn bleibt. Seine Entscheidung sei jedoch abhängig von der jeweiligen Spezialisierung. „Der Chirurg hat zum Thema hoffnungslose Zähne eine andere Einstellung als der Generalist.“ Was oft vergessen würde, sei die Tatsache, dass Zähne Sinnesorgane sind. „Sie haben eine Beziehung über das Gehirn zum Körper. Wenn wir Zähne verlieren, verlieren wir diese Wege“, warnte er.

Auch legt Allais Wert auf den Patientenbezug und erweitert die Betrachtungsweise zusätzlich um den Lebenszyklus des Patienten. Die Versorgung sollte vor allem so gewählt werden, dass sie dem Patienten auch in unterschiedlichen Lebensabschnitten angemessen ist, sie sollte tunlichst mehrere Lebensabschnitte überdauern können. Wichtig sei die Integrationszeit der Versorgung. Dem neuromuskulären System sollte die Zeit zur Adaptation an die neu geschaffene mastikatorische Situation gegeben werden. Während die erste oder zweite Dentition kontinuierlich über Jahre etabliert wird, geschieht die „dritte“ unmittelbar und sofort. Allais: „Adaptationsprobleme sind also nahezu obligatorisch.“

Ästhetik geht auch ohne Implantate. Eine weitere therapeutische Leitlinie ist für ihn die Suche nach reversiblen, wenig invasiven Therapien, die idealerweise die Möglichkeit zur Intervention offen lassen. In seinen zahlreichen Fallbeispielen verdeutlicht er, dass man durchaus auch ohne Implantate ästhetisch und funktionell sehr gute Resultate erreichen kann. Sehr häufig versorgt er mit Composite oder auch mit adhäsiv befestigter Keramik. Seine Botschaft: „Man kann auch in Kompromissfällen zu ästhetisch anspruchsvollen Resultaten gelangen.“

Die Extraktion aufschieben, denn jedes Jahr zählt. Prof. Dr. Markus Blatz von der University of Pennsylvania beleuchtet das Thema „Zahn oder Implantat“ aus prothetischer Sicht. Er betonte die Rolle der Wissenschaft in der Entwicklung neuer Verfahren, und bei der Bewertung von deren Evidenz. Seine Darstellung der Verzahnung von Wissenschaft und Praxis in der amerikanischen Forschung und Lehre machte, so die Reaktionen des Auditoriums in Berlin, die Problematik der Verhältnisse hierzulande deutlich. Sein Ausblick auf moderne digitale Verfahren der Literaturauswertung, der Wissensvermittlung und der Ausbildung machen neugierig auf die US-amerikanische Ausbildung.

Auch Blatz sieht es als seine Aufgabe an, die Extraktion eines Zahnes möglichst weit herauszuschieben. Nützlich in diesem Zusammenhang sind minimalinvasive adhäsive Restaurationen. Diese können weitaus traumatischere iatrogene Ereignisse für einen Zahn zwar nicht endgültig verhindern aber doch zumindest aufschieben. „Wir setzen inzwischen Implantate bei immer jüngeren Patienten. Wenn wir einen 25-Jährigen implantieren, schaut dies nach fünf Jahren noch toll aus. Wir wissen aber nicht, wie es nach 25 Jahren aussieht.“

Grundlage der Entscheidung ist für ihn die evidenzbasierte Zahnmedizin. Diese beruht aber nicht nur auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, wie vielfach vermutet wird. Vielmehr ist die Basis der Entscheidung der jeweils aktuelle Stand der Wissenschaft in Verbindung mit den Bedürfnissen und Vorlieben des Patienten und wird wesentlich mitbestimmt durch die klinische Expertise des Behandlers. Vor diesem Hintergrund sieht Professor Blatz Zahnerhaltung und Implantologie als komplementäre Disziplinen an. Als alternativen zur Implantation bietet er eine Vielzahl von - oft minimalinvasiv gestalteten -  Alternativen mit Ihren spezifischen Indikationen an.

„Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Dass dieser Spott von Paul Watzlawik nicht generell auf Implantologen zutrifft, belegte Blatz mit Studiendaten. Er widersprach am Ende seines Vortrags dem oft geäußerten Verdacht, dass die implantologische Spezialisierung eines Zahnarztes oder einer Zahnärztin dazu führe, dass die Beratung der Patienten sehr gezielt pro Implantat ausgerichtet sei. Blatz: „Studien belegen, dass implantologisch fortgebildete Zahnärzte den Zahn häufiger erhalten als die nicht fortgebildeten.“ Kurz: qualifizierte Zahnärzte haben in ihrer Werkzeugkiste neben einem Hammer noch ein paar andere Instrumente, die sie kompetent einsetzen können.

Letzte Aktualisierung am Dienstag, 14. Februar 2017