Leitlinien für die Implantologie im Fokus


Mehr als 50 Teilnehmer konnten DGI-Präsident Prof. Dr. Frank Schwarz, Düsseldorf, und Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden, Kassel, zum zweiten Sommersymposium der DGI in Kassel begrüßen. Im Mittelpunkt standen acht Leitlinien für die Implantologie, an deren Entwicklung die DGI federführend beteiligt war. Wie Professor Schwarz betonte, sorge das Thema Leitlinien „für omnipräsente Kontroversen in der kollegialen Diskussion sorge“. „Sie bieten einerseits systematische Entscheidungsgrundlagen für die Behandlung, werden aber – andererseits – als Begrenzung der ärztlichen Behandlungsfreiheit empfunden.“ Doch jenseits aller Debatten über Nutzen und Sinn von Leitlinien werde, so Professor Schwarz, die Implantologie durch die Aktivitäten der DGI auch in diesem wichtigen Bereich sichtbar, was der Akzeptanz des Faches diene.

Professor Hendrik Terheyden hatte in seiner Amtszeit als DGI-Präsident 2010 die Leitlinienarbeit der DGI in Zusammenarbeit mit der DGZMK und der AWMF gestartet. Für ihn sind Leitlinien keine „Fremdbestimmung“ und schränken die Handlungsfreiheit nicht ein. „Vielmehr schaffen sie Spielräume für die Behandlung.“ Denn anders als manche Kritiker vermuten, „sitzt bei der Entwicklung von Leitlinien auch die Opposition mit am Tisch und es geht sehr kontrovers zu“, beschrieb Professor Terheyden seine Erfahrungen bei der bisherigen Leitlinienarbeit.

Dr. Jaana-Sophia Kern, Aachen, fasste den aktuellen Stand zur implantologischen Versorgung des zahnlosen Oberkiefers zusammen. Dazu gibt es eine S3-Leitlinie, die derzeit überarbeitet wird. Die Leitlinie empfiehlt mindestens 4 Implantate im Oberkiefer. Bei einer festsitzenden Versorgung lautet die Empfehlung sechs Implantate. Trotz intensiver Diskussion wird auch die aktuelle Überarbeitung an diesem Punkt die Empfehlung nicht ändern: Für festsitzende Versorgungen im Oberkiefer auf vier Implantaten wird es wohl mangels Langzeitdaten derzeit keine Empfehlung geben.

Die magische Grenze von fünf Millimetern. „Der Markt der Biomaterialien wird sich konsolidieren“, prophezeite DGI-Schriftführer Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Mainz. Unlängst hat der Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments einstimmig eine neue Medizinprodukte-Verordnung auf den Weg gebracht. Die neuen Regelungen werden voraussichtlich Ende 2019 greifen. Dies wird auch Auswirkungen auf den Bereich der Knochenersatzmaterialien haben. Auch zu deren Einsatz gibt es eine Leitlinie, die zur Zeit überprüft wird, aber noch bis zum Ende des Jahres gültig ist. Professor Al-Nawas zufolge ist der Einsatz von KEM in der Implantologie evidenzbasiert aber es gelten maximal fünf Millimeter als „magische Grenze“ des erreichbaren Zugewinns an Knochen durch Knochenersatzmaterialen.

Den Alveolarfortsatz erhalten. Empfehlungen für Maßnahmen zum Strukturerhalt des Alveolarfortsatzes nach Zahnextraktion haben es bislang noch nicht auf die Ebene der Leitlinien geschafft – es existiert bislang nur eine Empfehlung der DGI zu diesem Thema, präsentiert in Kassel von PD Dr. Dietmar Weng, Starnberg. „Der Verlust des Bündelknochens ist nach einer Extraktion nicht zu verhindern, aber er ist kompensierbar“, so lautete seine Botschaft. „Heute müssen wir prothetisch korrekt positionieren. Der Strukturerhalt ist darum sehr wichtig.“ Wichtig sei dabei auch die Ärztliche Sorgfalt. Man könne nicht „einfach mal was reinschütten“. Socket- (SP) und Ridge-Preservation (RP) am Tag der Extraktion können die Strukturen erhalten. Das belegen Studien, die Weng et al. in einem systematischen Review ausgewertet haben.

Periimplantäre Entzündung: frühzeitig intervenieren. Das Risiko periimplantärer Entzündungen müsse unbedingt bei den Patienten angesprochen werden, damit die Bedeutung der kontinuierlichen Nachbetreuung erkannt würde, empfahl Prof. Schwarz. Denn eine frühzeitige chirurgische Intervention sei essentiell. Bei einer Mukositis ist das mechanische Debridement alleine effektiv und kann den BOP-Score reduzieren. Eine zusätzliche lokale antiseptische oder antibiotische Therapie scheint keinen zusätzlichen Effekt zu haben. Eine gute Mundhygiene in Verbindung mit mechanischem Debridement gelte als Behandlungsstandard bei einer Mukositis. Demgegenüber scheinen adjuvante Verfahren bei einer Periimplantitis die Wirkung der konventionellen Therapien zu verstärken.

Navigations-Schablonen erfordern Erfahrung. Beim Thema Indikationen zur implantologischen 3D- Röntgendiagnostik und navigationsgestützen Implantologie ist die Evidenzlage noch schmal. Darum konnte dieses Leitlinien-Thema nur bis zu einer S2k-Leitlinie entwickelt werden, die auf einem Konsens der Experten beruhen. Laut Prof. Dr. Jörg Wiltfang, Kiel hat eine 3D-Bildgebung bei der Implantologie einen sinnvollen Stellenwert vor allem bei besonderen Versorgungssituationen oder einer schwierigen Ausgangssituation. In solchen Fällen sei eine dreidimensionale Darstellung der knöchernen Situation und darauf aufbauend eine navigierte (konventionelle oder schablonengeführte) Implantation indiziert. „Der Einsatz von Implantatschablonen setzt jedoch viel Erfahrung in der Diagnostik und in der Anwendung solcher Schablonen voraus“, betonte Professor Wiltfang.

Risikoadaptierte Therapie-Entscheidung. Auf dem Weg zu einer Leitlinie befindet sich auch das Thema „Dentale Implantate bei Patienten unter antiresorptiver Therapie“. Wie Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz, Wiesbaden, betonte, sollten Patientinnen und Patienten gefragt werden, ob sie eine antiresorptive Therapie erhalten. Die Patienten würden beispielsweise monatliche Infusionen von Bisphosphonaten oft nicht von sich aus erwähnen. Implantate sind bei Antiresorptiva nicht kontraindiziert aber prinzipiell sollte die Entscheidung zur Implantation im antiresorptiv vorbehandelten Kiefer risikoadaptiert erfolgen. Grötz: „Wir fürchten nicht den Verlust des Implantates sondern das Auftreten einer Kiefernekrose.“ Als Praxistipp wurde die radiologisch „persistierende Alveole“ als Marker für ein hohes Komplikationsrisiko genannt. Auf der Website der DGI steht der sogenannte Laufzettel zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich vor einer Implantattherapie das Risiko einer Kiefernekrose abschätzen lässt.

Diabetes: risikoadaptierte Nachsorge. Auch bei Diabetes sind ähnlich wie bei den Antiresorptiva Zahnimplantate nicht grundsätzlich kontraindiziert. Nur der nicht behandelte  oder schlecht eingestellte  Diabetes mellitus gehört zu den Risikofaktoren, die bei einer Implantation die Einheilung beeinträchtigen können. Diabetes verändert die Aktivität von Signalstoffen, die den Auf- und Abbau von Knochensubstanz regulieren. Darum steht das Thema Implantate und Diabetes auf der Liste der nächsten Leitlinien.  Professor Wiltfang, betonte, dass die Stabilität eines Implantates bei Diabetikern in den ersten sechs Wochen geringer sei und riet darum von einer Sofortbelastung ab. Auch sprach er sich gegen den Einsatz kurzer oder durchmesserreduzierter Implantate aus. Bei Patienten mit einem schlechten, sprich: zu hohem, HbA1c-Wert – einer Art von Langzeitgedächtnis des Blutzuckers im Körper – beobachten die Experten eine höhere Rate von Periimplantitis mit schweren Verläufen. Gleichwohl sei in der Literatur eine erhöhte Verlustrate nicht belegt.

Implantate bei Zahnnichtanlagen: harte Regeln weichen auf. Zahnaplasien sind mit fünf Prozent die häufigste Fehlbildung der Menschheit. Die Implantologie ist dann eine von mehreren Therapie-Optionen. Darum steckt das Thema Zahnimplantate bei Patienten mit Zahnnichtanlagen ebenfalls in der Pipeline der Leitlinien. Eine Implantattherapie scheint die besten Ergebnisse zu erbringen, so der Stand der Experten, allerdings nicht bei Kindern unter 13 Jahren. Die alte Regel, daß wegen der Gefahr der Infraokklusion erst im Erwachsenenalter implantiert werden soll, weicht einer differenzierten Betrachtung nach Schweregrad und Kieferort. Zahnautotransplantate und die dauerhafte Erhaltung des Milchzahns an der Stelle einer Zahnnichtanlage haben geringe Verlustraten und sind eine kostengünstige Therapie ebenso wie der kieferorthopädische Lückenschluß. Eine nicht implantatgetragene prothetische Versorgung sollte minimalinvasiv erfolgen, zum Beispiel durch einflügelige Adhäsivbrücken, die eine gute Prognose aufweisen. Professor Terheyden betonte, dass Zahnimplantate bei Nichtanlagen eine suffiziente Behandlung der Knochen und Weichteildefizite voraussetzen und ein interdisziplinärer Ansatz bei den jugendlichen Patienten wichtig sei.

Nichtbeachtung einer Leitlinie ist eine Therapieentscheidung. In der Diskussion zum Pro und Contra von Leitlinien standen sich Professor Al-Nawas und PD Dr. Weng gegenüber. Professor Al-Nawas betonte den Vorteil der Leitlinien, die nicht nur auf der Bewertung des aktuellen wissenschaftlichen Standes beruhen, also nicht rein evidenzbasiert sind, sondern in Zusammenschau mit der klinischen Erfahrung und der individuellen Patientensituation im formalen Konsens entwickelt werden. Für den Experten sind Leitlinien „ein Werkzeug zur Verdichtung von Wissen.“ PD Dr. Weng verwies auf die oft unzureichende Datenlage in der Literatur, die mangelhafte Datenqualität oder vorhandene Biases. Vor allem vermisse er oft die Praxisnähe. Außerdem, so betonte er, wären Leitlinien nicht justiziabel. Vor allem dieser Aspekt wurde in der anschließenden Diskussion lebhaft aufgenommen. Professor Grötz betonte, dass Leitlinien bei Auseinandersetzungen mit Krankenversicherungen sowie vor Gericht ein hoher Stellenwert zur Beschreibung des aktuellen Stands einer Behandlung „lege artis“ zukomme. Sie müssen aber auch durch die offene Formulierungen aber die ärztliche Entscheidungsfreiheit unterstützen. Darum könnten Leitlinien vor Gericht helfen. Sachverständige seien zwar nicht an eine Leitlinie gebunden, würden diese aber gleichwohl beachten. Dennoch sei das Verlassen der Leitlinie in begründeten Fällen eine ärztliche Therapieentscheidung und kein Behandlungsfehler.

Letzte Aktualisierung am Freitag, 19. August 2016